Paradigmenwechsel (5)

Was machen die Pioniere des Paradigmenwechsels, wenn sie wieder alleine, zurück zu Hause und in ihren persönlichen Umfeld sind?

 

Diese Frage ist eigentlich ganz einfach zu beantworten:

 

Sie üben sich in der Rechtfertigung.

 

Die Rechtfertigung aus Gnade durch den Glauben ist das Herzstück des evangelischen Christentums. Sie ist aber nicht nur gewissermaßen der Kernsatz evangelischer Lehre, sondern sie ereignet sich tatsächlich. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn sie geübt wird. Jeder Druck, unter dem Menschen stehen, jeder Stress, in den sie geraten, jede Hektik, der sie ausgesetzt sind, zwingt sie dazu, sich immer wieder und erneut dafür rechtfertigen zu müssen, dass sie nicht so sind, wie sie (meinen,) sein (zu) sollen oder (zu) wollen. Sie sind nicht mit sich identisch, nicht mit sich im Reinen, nicht im Frieden (nicht “zu Frieden“) mit sich selbst. Das ist es, was sie unter Druck setzt.

 

Von diesem Druck, sich rechtfertigen zu müssen, können sie sich genauso wenig frei machen wie ein Angeklagter sich von der Anklage selbst frei sprechen kann - eine solche Rechtfertigung bedarf der entsprechenden richterlichen Vollmacht, die der Angeklagte selbst nicht hat. Darin liegt der Sinn der Berichte über den Tod Jesu am Kreuz: er ist Ausdruck dafür, dass Jesus die Haftung für alles, was die Menschen zu verantworten haben, übernommen hat. Das ermöglicht Gott, sie so, wie sie jetzt gerade sind, anzunehmen und gerecht zu sprechen.

 

Die Rechtfertigung aus Gnade durch den Glauben besteht nun darin, die Art und Weise, wie Gott sie ansieht, zu übernehmen und sich selbst auch so anzusehen. Sie brauchen sich dann nicht mehr selbst anzuklagen, noch zu verurteilen noch für was auch immer zu rechtfertigen. Sie schauen sich selbst an, ohne zu werten und ohne ein Urteil über sich fällen. Sie sind so, wie sie sind, und das ist gut so. Sie sind o. K.

 

Wenn man das einmal begriffen hat, so sollte man meinen, musste der ganze Druck, der Stress, dem man sich - aus Angst davor, zu Scheitern - ausgesetzt hat, schlagartig von einem abfallen. Das ist der in der Regel nicht der Fall. Vielmehr müssen auch sie sich, durchaus mit Ausdauer und mit langem Atem in diese Sichtweise, also in Rechtfertigung einüben.

 

Das meinen sie, wenn sie vom Glauben sprechen. Ohne zu werten, ohne in gut und böse einteilen, ohne Urteile zu treffen schauen sie sich selbst, aber auch die anderen und die ganze Welt mit den Augen dessen an, der auf Grund von Kreuz und Auferstehung Jesu Frieden mit ihnen, mit den anderen und mit der Welt Frieden geschlossen hat.

 

Sie eignen sich diese Sicht an, indem sich darin üben, alles los zu lassen, was sie angeklagt, unter Druck setzt, sie dazu zwingt, sich zu rechtfertigen, was sie in Stress bringt, was sie überfordert. Sie fangen damit an, indem Sie auf sich schauen: Wer bin ich, hier und jetzt, unverstellt und ehrlich, so wie ich wirklich bin? Sie achten darauf, wie der Atem in ihnen fließt und spüren: es ist jetzt gut so. Während sie ihrem Atem zuschauen, spüren sie, wie er immer ruhiger und tiefer wird und wie sich zumindest für den Augenblick die Anspannungen lösen, die sie an ihrem Körper wahrnehmen.

 

Sobald sie diese Übung beenden oder sie abgelenkt werden, kehrt die alle Anspannung erst mal zurück. Rechtfertigung, Gelassenheit, Wachheit und Vertrauen müssen dauerhaft und immer wieder geübt werden, damit sie mehr und mehr zum Habitus werden. Erst dann nämlich fangen sie an, auszustrahlen, was sie glauben. Sie sind gelöst, ruhen in sich selbst, verbreiten Gelassenheit und stecken mit Begeisterung und Zuversicht an. Das ist ihr Weg, eine Atmosphäre zu schaffen, die die Gemeinde auch für andere zur Heimat macht und zugleich zu einem Ort des Aufbruchs.

 

(Paradigmenwechsel 6) (zurück zur ersten Seite)

Kommentar schreiben

Kommentare: 0