Paradigmenwechsel (6)

Mystiker sind sie nicht, die Pioniere des Paradigmenwechsels, eher Entdecker der Langsamkeit. Wenn man aber unter Mystik den langen, liebevollen Blick auf die Wirklichkeit (Richard Rohr) versteht, dann hat das durchaus auch mystische Züge, wenn sie sich in der Rechtfertigung üben. Es geht in ihr ja gerade darum, das, was ist, lange und liebevoll anzuschauen, sie nicht auszublenden, sie wahrzunehmen, sich ihr zu stellen.

 

Wenn sie sich in der Rechtfertigung üben, achten sie auf ihren Körper. Jeder Stress, jeder Überforderung oder Verunsicherung, jeder Druck hinterlässt dort seine Spuren. Wenn sie angespannt, ermüdet, erschöpft oder verkrampft sind, dann ist es ihr Körper. Umgekehrt, wenn sie gelöst, erfrisch, wach und entspannt sind, ist das ebenfalls ihr Körper. Der Körper ist das Tor zur Seele. Hier finden wir den Zugang zu ihr. Um sich in der Seele zu üben, wenden sie ihrem Körper die Aufmerksamkeit zu, auch dadurch, dass sie ihm den nötigen Schlaf, eine gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung gönnen.

 

Sie wissen, dass der Körper gegen den Druck wehrt, indem er sich anspannt oder verspannt. Deswegen üben sie sich darin, alle Anspannungen zu lösen und sich zu entspannen. Damit lassen sie aber zu, dass alles, was den Druck auf sie ausübt, nicht mehr daran gehindert wird, auf sie einzuwirken. Sie wehren sich nicht gegen die Angst, die Unruhe, was sie bedrückt. Das geht aber nur, wenn sich sich das bewusst machen, sich anschauen, damit umgehen, damit auseinandersetzen. Das Loslassen führt in die Wahrheit. An ihr vorbei ist Gelassenheit unmöglich. Die Rechtfertigung kann sich nur dann ereignen, wenn die Wahrheit zugelassen wird, wenn sein darf, was wirklich ist. Das ist zuweilen schwer - aber sie erinnern sich immer wieder daran: Sie sind in Gottes Augen gerechtfertigt und sie dürfen es auch in ihren eigenen Augen sein.

 

Aber manchmal wird es dann trotzdem zu viel. Weglaufen ist unmöglich, Stand halten aber auch nicht. Jetzt schauen sie darauf, dass sie nicht allein bleiben. Die Seelsorge ist ein wichtiges Element in der Übung der Rechtfertigung. Von Seelsorge sprechen sie, wenn sie einen Menschen ihres Vertrauens an ihrer Geschichte teilhaben lassen. Es geht nicht darum, Ratschläge zu bekommen. Aber es ist wichtig, dass sie Abstand von sich selbst gewinnen und sich gewissermaßen von außen betrachten. Dazu kann das Gespräch mit einem Menschen, der darüber anderen gegenüber schweigt, von großer Bedeutung sein. Dieser Mensch ist ja - zumindest sollte er das sein - von eigenen Geschichte selbst nicht betroffen. Er hat also die Möglichkeit, sie sich von außen anzuschauen und einschätzen. Er kann möglicherweise Hinweise geben, die nur aus der Entfernung her möglich sind, nicht aber, wenn man in der Geschichte mittendrin steckt. Außerdem wird dadurch erfahrbar, dass sie alle ihrer Stärken, aber eben auch ihre Schwächen haben. Wenn alle mit sich allein blieben, müssten alle stark sein. Da sie das nicht sind, bleiben sie auch nicht allein.

 

Was sie nicht sonderlich mögen, ist die Beichte. Sie beobachten an Jesus, dass er den Betroffenen unmittelbar die Vergebung der Sünden zuspricht, ohne sie in Beichtgespräche zu verwickeln oder zum Thema zu machen, worin die Sünde eigentlich besteht. Sie halten die Beichte eher für ein Machtinstrument von Kirchen oder Gemeinde mit ausgeprägt autoritären Strukturen. Die Beichte neigt dazu, Menschen in eine gewisse Abhängigkeit zu bringen und gefährdet ihre Selbständigkeit und Mündigkeit eher als dass sie sie unterstützt. In besonderen Fällen kann die Beichte - also das Aussprechen des Fehlverhaltens und das daraufhin erfolgende Lossprechen - ein Angebot und eine Hilfe sein, aber sie eignet sich nicht als regelmäßige oder gar mehr oder weniger verpflichtend gebrauchte Übung.

 

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