Paradigmenwechsel (2)

Wenn diese Einschätzung richtig ist, ist die Folgerung zwingend, dass die Kirchen die Verantwortung für das Christsein ihrer Mitglieder an diese werden zurückgegeben müssen. Die Christinnen und Christen müssen dementsprechend für sich selbst und für ihren Glauben und dessen Ausgestaltung im eigenen Leben die Initiative und die Verantwortung selber übernehmen. Die Kirchenmitgliedschaft verliert damit ihre Rolle als Unterscheidungsmerkmal, wer evangelisch bzw. katholisch ist und wer nicht. Damit ziehen sich die Kirchen aus ihrer Verantwortung für Ortsgemeinden und (katholisch gesprochen) Pfarreien weitgehend zurück. Die Gemeinden und ihre Mitglieder werden damit in nahezu vollem Umfang für das eigene Gemeindeleben, für die am Gemeindeleben teilnehmenden Menschen, für die eigenen Gebäude, Finanzen und Mitarbeitenden verantwortlich. In dieser Übertragung der Verantwortung auf die Gemeinden und ihrer Übernahme durch die Gemeinden als Eigenverantwortung besteht der eigentliche Paradigmenwechsel.

 

Dass damit die Landeskirchen oder Bistümer, auch Pfarrerinnen und Priester keineswegs bedeutungslos werden, darauf komme ich später noch zurück. Hier geht es darum, welche Folgen der Paradigmenwechsel für jene hat, die sich als evangelische oder katholische Christinnen und Christen verstehen. Die Rückseite des erwähnten Paradigmenwechsels besteht nämlich daran, dass an die Stelle der steuerzahlenden Kirchenmitgliedschaft als zentralem Merkmal evangelischen oder katholischen Christseins die Ein- und Ausübung der Praxis des Christentums, der Kommunikation des Evangeliums und evangelischen Lebenskunst tritt. Mit anderen Worten: Wer die Verantwortung für den eigenen Glauben übernimmt, beginnt damit, sich in der Praxis des Christentums, der Kommunikation des Evangeliums, der evangelischen Lebenskunst zu üben.

 

Für die Gemeinden hat das zur Folgen, dass man nicht mehr deswegen Gemeindeglied ist, weil mein Kirchenmitglied ist und damit, in der Regel, der Wohnortgemeinde angehört. Vielmehr ist die Kirchenmitgliedschaft eine Folge des praktizierten Glaubens. An die Stelle der Zugehörigkeit zur Gemeinde tritt die Beteiligung und Mitwirkung am Gemeindeleben. Das setzt allerdings voraus, dass dies auf Grund des eigenen, freien Entschlusses geschieht und nicht durch die verwaltungstechnische Zuordnung zur Wohnsitz-Gemeinde. Die Zusammensetzung der Gemeinde bekommt dadurch, weniger auf dem Land, vor allem in Städten und Ballungsräumen, einen völlig anderen Charakter: Sie ist nicht mehr durch ein Gebiet, durch festgelegte Grenzen "definiert", sondern allein durch den Ort, wo sie zusammenkommt, wo sie ihre Gottesdienste feiert und wo ihr Gemeindeleben stattfindet. Es versteht sich also keineswegs mehr von selbst, welcher Gemeinde ich angehöre, weil ich da oder dort wohne. Ich muss eine Entscheidung treffen. Dadurch geraten die Gemeinden durchaus miteinander in die Konkurrenz. Ihr Verhältnis zueinander wird durch Wettbewerb und Kooperation bestimmt - in einer offenen, demokratischen Kultur ist das ohnehin die Normalsituation. Gemeinden können jetzt selbst entscheiden, inwieweit und mit wem sie zusammenarbeiten, ob sie im Blick auf Projekte, Gebäude, Mitarbeitende, Finanzen, Verwaltung, Öffentlichkeitsarbeit gemeinsam auf dem Wege sind oder aber sich aufteilen, sich voneinander trennen, eigene Wege gehen und sich als Alternative zu den Nachbargemeinden verstehen. Ob Gemeinden sich trennen oder vereinigen, liegt bei ihnen selbst. Entscheidend ist, dass die Gemeinden dies alles im vollen Umfang selbst verantworten. Landeskirche und Kirchenkreise werden dadurch keineswegs überflüssig, allerdings werden deren Apparate deutlich reduziert werden können und die dort eingesparten Kosten kommen den Gemeinden zu Gute. Die Aufgaben von Landeskirche und Kirchenkreise werden vor allem in der Repräsentation nach innen und außen, in der Beratung, der Konfliktregulierung, der Bildung (incl. der theologischen Ausbildung und beruflichen Begleitung von Pfarrerinnen und Pfarrern), der institutionalisierten Diakonie und in Projekten bestehen, die nicht von einzelnen Gemeinden getragen und nur regional bzw. übergemeindlich geleistet werden können. Die Verantwortung für das Leben der Gemeinden liegt aber ausschließlich bei den Gemeinden selbst.

 

Ein Beispiel für eine solche Gemeinde der Zukunft ist die Evangelische Michaelsbruderschaft. Sie wird nicht durch den gemeinsamen Wohnort und die Nachbarschaft zusammengehalten. Hier kommen Menschen, in diesem Fall Männer, zusammen, die ähnlich denken, eine gemeinsame liturgische Sprache pflegen und sich einer gemeinsam verabredeten Ordnung unterstellen. Auch wenn ihr katholische, altkatholische und freikirchliche Mitglieder angehören, hat sie ihren Ort in der reformatorischen Tradition, aber sie strebt nach einer gewissermaßen westkirchlich-abendländischen, katholische und evangelische Kirche verbindenden und gemeinsamen Formensprache. Sie kennzeichnet, dass sie den Gottesdienst als Messe feiert, vom Abendmahl als von der Eucharistie spricht und den gregorianischen Psalmengesang pflegt. Vor allem aber lautet ihr Kernsatz: "Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind" - damit nimmt sie den Grundton der zukünftigen Kirche vorweg. Hier haben sich Menschen aus eigenem Entschluss und freiwillig zusammengetan, um miteinander Gemeinschaft und geistliches Leben zu pflegen und Kirche zu sein.

 

Das wird in Zukunft die Regel sein. Es werden sich viele Gemeinden, Gemeinschaften und Geschwisterschaften bilden, mit sehr unterschiedlichem Profil, von sehr unterschiedlicher Größe und Verbindlichkeit, mit sehr unterschiedlichen Weisen, sich selbst zu organisieren. Von evangelikal bis emanzipatorisch, von fromm bis links, von von missionarisch bis kulturprotestantisch, von hochkirchlich bis freikirchlich, von high church bis low church wird alles dabei sein. Zumindest in den Städten und Ballungsräumen wird man echte Wahlmöglichkeiten haben. Zusammengehalten werden diese Gemeinden durch die Berufung auf die klassischen Bekenntnisschriften, die Barmer Theologische Erklärung, die Grundartikel der Kirchenordnung und eine gemeinsame noch zu entwickelnden Rahmenordnung. Es wird nun auf die Leitung der Kirche in Kirchenkreisen und Landeskirche ankommen, ob sie diesen Prozess bremst und retardiert oder aber mutig voranbringt und moderiert. Wie gesagt: Wir haben nicht die Wahl, ob dieser Paradigmenwechsel stattfindet oder nicht, vielmehr sind wir genötigt zu entscheiden, ob wir ihn aufhalten und uns dagegen stellen wollen, oder ob wir ihn bewusst gestalten wollen. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass dazu die mittlere und höhere Leitungsebene benötigt werden und nicht zu ersetzen sind.

 

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