Paradigmenwechsel (3)

Ein entscheidendes Merkmal des erwarteten Paradigmenwechsels wird sein, dass die Initiative zur Bildung von Kirche nicht mehr beim Pfarramt, beim Presbyterium oder Kirchenvorstand, beim Bischof oder Kirchenkreis liegt. Jetzt hat jeder, der das möchte, die Möglichkeit, die Initiative zu ergreifen, und zwar ohne die Erlaubnis oder Genehmigung “von oben“ dafür abzuwarten.

 

Am Anfang steht die gemeinsame Verabredung, sich in die Praxis des Christentums, die Kommunikation des Evangeliums, die evangelische Lebenskunst einzuüben und selber Kirche zu sein.

 

Ich erzähle hier die Geschichte einer fiktiven Gruppe, die entschlossen ist, diesen Weg zu gehen - nennen wir sie die "Pioniere des Paradigmenwechsels". Irgendjemand wird dazu die Initiative ergreifen und andere Personen seines Vertrauens einladen - zu sich nach Hause, in die eigene Wohnung. So war es ganz am Anfang der Kirchengeschichte nämlich auch. Er oder sie lädt nicht nur zu einem Abendessen ein, sondern zu einem Gottesdienst. Der Ursprung der Kirche ist die Tischgemeinschaft. Sie ist in der Pessach-Tischgemeinschaft Jesu mit seinen Schülern gegründet worden. So wie die Feier des Pessach die Befreiung und den Aufbruch aus der Sklaverei in Ägypten vergegenwärtigt und den Tischgenossen die Möglichkeit gibt, selbst dabei zu sein und an dieser Geschichte teilzuhaben, so gibt Jesus den Auftrag, dies bei den Zusammenkünften der Christinnen und Christen zu wiederholen: "Tut dies zu meinem Gedächtnis". Sie nehmen damit selbst an jener Tischgemeinschaft teil, jedoch nicht, um Pessach zu feiern, das bleibt das Privileg Israels. Sie feiern Tischgemeinschaft, um das zu wiederholen, worin Jesus damals von der Pessach-Liturgie bewusst abgewichen war: Er nahm ein Brot, dass er in Stücke brach, um jedem, der mit am Tisch saß, davon zu geben, mit den Worten: Dies ist mein Leib. Ebenso nahm er danach einen Becher mit Wein, den er ihnen reichte, dieses mal mit den Worten: Das ist der neue Bund. So wie Jesus es vorgemacht hat, ahmen sie es nach und brechen das Brot und teilen miteinander den Kelch. Damit wird aus jeder Mahlzeit, aus jeder Tischgemeinschaft, aus jedem Abendessen ein Gottesdienst, indem die gewissermaßen die leibliche Anwesenheit Jesu und den neuen Bundesschluss zeichenhaft dargestellt, nacherlebt, erneuert und bekräftigt wird.

 

Auch wenn beides auf das selbe Ereignis zurückgeht, handelt es sich hier nicht um die Feier des Abendmahls, sondern um das Brotbrechen (vgl. Apg 2,42.46). Das Abendmahl hat seinen Ort im öffentlichen Gottesdienst, wird öffentlich gefeiert. Es ist das öffentliche Bekenntnis zu Christus und jeder hat die Möglichkeit, daran teilzunehmen. Es darf nach Kirchenordnung nur von einer dafür besonders beauftragten, das heißt: ordinierten Person geleitet werden, was für die Erkennbarkeit als (z. B.) evangelischer Gottesdienst nicht ganz unwichtig ist.

 

Das Brotbrechen findet dagegen nicht öffentlich statt, sondern im persönlichen Rahmen einer Privatwohnung. Jeder, der an einer solchen Mahlzeit, in dessen Rahmen das Brotbrechen stattfindet, teilnimmt, wurde vorher persönlich dazu eingeladen. Es kann deswegen von jedem geleitet werden. In der Regel werden das die Gastgebenden sein, in deren Wohnung es stattfindet. Er oder sie nimmt dazu das Brot und bricht es, der Anzahl der Teilnehmenden entsprechend in Stücke und spricht dazu das Brotwort ("...nahm er das Brot...dies ist mein Leib..."). Nachdem alle gegessen haben, wird ein Becher mit Wein genommen und das Kelchwort dazu gesagt ("...nahm er den Kelch...dies ist der neue Bund in meinem Blut..."). Die Pioniere des Paradigmenwechsels haben dazu zwei Möglichkeiten: Entweder eröffnen sie mit dem Brotwort und dem Teilen des Brotes die Mahlzeit und schließen sie mit dem Kelchwort und dem Herumreichen des Weinbechers ab. Oder beides geschieht zu Beginn oder am Ende der Mahlzeit nacheinander. Sobald das geschieht, ereignet sich Kirche, nicht öffentlich, sondern im persönlichen Bereich. Das ist aber, wie die ersten Kapitel der Apostelgeschichte berichten, exakt die Gestalt, in der die Geschichte der Kirche begonnen hat.

Bevor die Kirche an die Öffentlichkeit geht, muss sie sich nämlich erst einmal bilden. Das kann nicht öffentlich passieren, denn die Gemeinde ist, laut Barmer Erklärung (III. These) eine "Gemeinde von Geschwistern" - Geschwister sind sie nicht aufgrund von Verwandschaft, sondern weil sich zu einen zueinander zugehörig fühlen, sich vertraut sind und persönliche Beziehungen zueinander pflegen. Aber diese Gemeinde von Geschwistern in diesem Sinne, "in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt", muss sich erst einmal bilden. Dazu braucht es den persönlichen Rahmen. Erst dann kann sie an die Öffentlichkeit gehen, um "mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist". Wenn es der Kirche an solchen entschlossenen kleinen Gruppen fehlt, die mit allem Ernst selber Kirche sein wollen, wird sie auch in der Öffentlichkeit kaum an Glaubwürdigkeit gewinnen und echtes geistliches Wachstum und Leben durch Verwaltung und Management ersetzen müssen. Es sind die kleinen Gruppen, deren Mitglieder sich persönlich kennen, sich verabreden, sich unterstützen, beistehen, ermutigen, trösten und segnen, die den Kirchen, wenn sie denn an die Öffentlichkeit gehen, die nötige Vollmacht und Autorität verleihen. Mit der Bergpredigt gesprochen: Um Licht der Welt zu sein, muss sie zuerst zum Salz der Erde werden (Mt 5,13f.).

 

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