E.K.I.R. 2030 - Evangelisches Rollback (2)

Im gestrigen Blog (E.K.I.R. 2030 - Evangelisches Rollback (1)) habe ich versucht, deutlich zu machen, dass es keiner besonderen prophetischen Begabung bedarf, um vorauszusehen, dass "E.K.I.R. 2030" zum Scheitern verurteilt ist. Dieses Projektpaket ist - wieder einmal - ein Versuch, mit Hilfe zentraler Steuerung den Niedergang kirchlichen Lebens aufrecht zu erhalten. So etwas ist jedoch bisher noch nie geglückt.  

 

Es gibt dazu - wie angedeutet - eine Alternative. Sie erfordert allerdings Geduld und Beharrlichkeit, Gelassenheit und Entschlossenheit. Diese Alternative besteht darin, statt das kirchliche Leben zentral zu steuern, es von selbst und von unten wachsen zu lassen. Das heißt nicht, es sich selbst zu überlassen. Wie in der Garten- und Landschaftspflege gebührt dem, was wachsen soll, Aufmerksamkeit und Pflege. Dabei wird nicht in das Wachstum selbst eingegriffen, sondern Sorge für die Wachstumsbedingungen und Voraussetzungen getragen. Damit wird die Eigendynamik des Geschehens ausgelöst und gefördert, in das hinein sich das kirchenleitende Handeln einbettet. Während im zentralgesteuerten Verfahren - wie bei E.K.I.R. 2030 - entgegen der Intention ein sich selbst verstärkender Kreislauf des Rückbaus eingeleitet wird, geschieht hier das Gegenteil: Die Dynamik des Wachstums stärkt sich selbst. Hier zähle ich auf, welche Elemente zu einer wachstumsfördernden Kirchenleitung unbedingt dazu gehören:

 

1. Die Gemeinden sind mündig und tragen ihre Verantwortung für sich selbst. Sie regeln ihre Angelegenheiten - Finanzen, Personal, Gebäude, Gemeindeleben, Gottesdienste usw. - selbst und unabhängig. Sie sind keine Einrichtungen oder Unterabteilungen des Kirchenkreises oder eine anderen regionalen Instanz, die lediglich die Aufgabe der Aufsicht, Beratung, Moderation und Repräsentation hat. Die Gemeinden müssen überschaubar sein und dürfen sich nur auf einen Ort des regelmäßigen Gottesdienstes beziehen - wird ein zweiter regelmäßiger Gottesdienst eingerichtet, wird damit automatisch eine neue Gemeinde gegründet. Nicht das Wohnortprinzip, sondern die persönliche Entscheidung begründet die Gemeindezugehörigkeit. Ob eine Gemeinde sich teilt oder ob Gemeinden fusionieren oder kooperieren, entscheiden diese selbst; der Kirchenkreis oder die Landeskirche können beraten, aber der Gemeinde die Entscheidung nicht abnehmen. Wenn die Gemeinden für sich selbst verantwortlich sind, muss jedoch auch die Möglichkeit gegeben sein, auch zu scheitern, sich aufzulösen oder in eine andere Gemeinde aufzugehen. 

 

2. Das Pfarramt ist ein wesentliches und unverzichtbares Element des kirchlichen Lebens. Pfarrerinnen und Pfarrer haben den Auftrag, auf eine biblisch begründete Verkündigung des Wortes Gottes und Verwaltung der Sakramente zu achten. Sie stehen für die Seelsorge bereit. Sie führen den kirchlichen Unterricht und die Glaubensunterweisung durch, führen in die Heilige Schrift und in eine elementare Theologie ein und leiten zur Spiritualität und zu einer evangelischen Praxis an. Sie sind präsent und achtsam, sie sind ansprechbar und sprechen die Menschen an. Jedoch nehmen sie keine Weisung entgegen und geben auch keine Weisung; sie sind nicht an Gemeinde- und Kirchenleitung und -verwaltung beteiligt. Ihr Wirken beruht auf der Freistellung von anderen Berufen, auf ein fundiertes Studium der Theologie und ggf. anderer Wissenschaften, auf die eigene Lebenserfahrung, auf das Gespräch und das Zuhören und die persönlich gepflegte Spiritualität. Sie sind in der Wahrnehmung ihres Amtes frei, legen aber gegenüber den Beteiligten eine Konzeption ihres Dienstes vor und legen Rechenschaft ab. 

 

3. Eine Gemeinde gewinnt in dem Maße Ausstrahlung auf die Umwelt, in dem ihre Mitglieder in der Spiritualität und in einer evangelischen Praxis geübt sind. Dazu gehören Schweigen, Bibelstudium, Gebet, die Feier des Gottesdienst, die Übernahme von Verantwortung gegenüber den Nächsten, und das Teilen des Glaubens miteinander im Zuhören und Erzählen und in der gegenseitigen Segnung. Gemeinde und Pfarrerinnen und Pfarrer schaffen Gelegenheiten, sich darin einzuüben. Das fast durchgehende Ausbleiben einer Ausstrahlung und einer anziehenden Wirkung auf die Umwelt hat maßgeblich seine Ursache in der Tatsache, dass die Mitglieder der evangelischen Kirchengemeinden im evangelischen Glauben wenig bis gar nicht geübt sind. Vor jeder Außenwendung und Selbstdarstellung einer Kirchengemeinde in der Öffentlichkeit muss die Einübung des Glaubens dringend Priorität bekommen.

 

4. Der Gottesdienst der Gemeinde wird als öffentlicher Gottesdienst und als Hausgottesdienst gefeiert. Im öffentlichen Gottesdienst stellt sich die Gemeinde in der Öffentlichkeit dar. Er ist allgemein zugänglich und eine Teilnahme ist für alle Interessierte möglich. Die verlässlich zum Gottesdienst zusammenkommende Kern-Gemeinde ermöglicht es, dass auch Gäste an ihm teilnehmen können. Wichtiger als eine zahlreich Beteiligung ist, dass der Gottesdienst regelmäßig und verlässlich, auch zu verlässlichen Zeiten, gefeiert wird. Der Hausgottesdienst dagegen wird in einer kleinen Gruppe gefeiert; wer an ihm teilnimmt, ist vorher persönlich eingeladen worden. Die Grundform dieses Gottesdienstes ist die Tischgemeinschaft, in der auch das Abendmahl gefeiert wird. Da der Hausgottesdienst nicht öffentlich ist, kann das Abendmahl auch ohne Anwesenheit eine ordinierten Person gefeiert werden. Während im öffentlichen Gottesdienst das öffentliche Bekenntnis zum dreieinigen Gott im Mittelpunkt steht, ist der Hausgottesdienst vornehmlich der Ort, an dem die Teilnehmenden ihren Glauben miteinander teilen können.

 

5. Zwischen der Mitgliedschaft in der Kirche und der Mitgliedschaft in einer Gemeinde muss streng unterschieden werden. Die Mitgliedschaft in der Kirche wird durch die Taufe begründet; in diesem Sinne kann sie an- und wahrgenommen werden, aber niemand wird dazu genötigt. Mit der Taufe wird jede und jeder Getaufte auch zum Priester oder zu Priesterin geweiht; es gibt in der evangelischen Kirche keine von der Taufe unterschiedene Priesterweihe. Die Mitgliedschaft in einer Gemeinde beruht zum einen auf der Entscheidung des jeweiligen Mitgliedes, dazugehören zu wollen, und auf der Entscheidung der Gemeinde, die betreffende Person als Mitglied aufzunehmen. Die damit verbundene gegenseitige Verbindlichkeit muss in jeder Gemeinde für sich geklärt werden. Die finanziellen Verpflichtungen ergeben sich aus der Mitgliedschaft in der Gemeinde, nicht in der durch die Taufe begründete Mitgliedschaft in der Kirche. Die Gemeinden wiederum leisten ihren finanziellen Beitrag zur Unterstützung des gesamtkirchlichen Lebens und der übergemeindlichen Aufgaben.

 

6. Kirchen und vergleichbare Gebäude müssen - als die sprichwörtliche "Kirche im Dorf" - zum einen für die Begegnung mit Gott ausgesondert, zum andern für alle, die um sie herum leben, offen gehalten werden. Auch wenn ganze Stunden, Tage oder Wochen kein Mensch die offene Kirche aufsucht, führt schon allein das Wissen: "Diese Kirche steht - auch für mich - offen" - zu einem ganz anderen, vertrauten Verhältnis zu ihr, auch dann, wenn ich ihr nicht angehöre. Sie gewährt Asyl, wenn sie die Menschen signalisiert, dass sie, so oder so, willkommen sind und einfach kommen können. "Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!" (Gen 28,16) - hier ist der Ort, an dem das Wort Gottes an die Zeitgenossen ergeht, wo sein Name angerufen wird, wo Menschen in seinem Namen gesegnet werden, wo in Taufe und Abendmahl der Bund erneuert wird. Wir lassen mit unserer Kirche den Namen Gottes in unserer Stadt wohnen, und jeder kann dorthin kommen, wer er oder sie auch sei. Eine verschlossene Kirche, die nur einmal in der Woche für wenige Stunden am Sonntag morgen geöffnet ist, ist nicht ein Zeichen der offenen, einladenden, sondern der abwesenden und abweisenden Kirche.

 

 

 

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