Sonntagsmeditation zum Reformationstag (31. Oktober 2021): Fester Boden unter den Füßen

Galater 5,1-6


Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Ich gestehe, dass ich für die Gegner des Paulus im Galaterbrief Sympathien habe. Und dass ich erst mal nicht ganz verstehe, warum Paulus so heftig reagiert. Was die wollen, die Leute, gegen die Paulus sich ausspricht, das hat nach meiner Einschätzung sehr gute Gründe. Bevor wir uns allzu schnell auf die Seite des Paulus schlagen und ihm recht geben, sollten wir zunächst auf die hören, gegen die Paulus sich hier wendet. Das ist alles andere als Willkür, die sie hier an den Tag legen. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass sie tatsächlich die richtigen Fragen stellen. Z.B. die danach, wer eigentlich ihr Gott ist. Die Christen lassen doch keinen Zweifel daran, dass ihr Gott, an den sie glauben, der Gott Israels ist und dass sie damit zum Volk Gottes gehören. Dann muss aber auch der Wille Gottes, den er beim Bund am Sinai kundgetan hat, auch für sie gelten. Schon der Prophet Jesaja hat doch angekündigt, dass die Völker in den Bund einbezogen werden und dass viele Völker sagen werden: "Kommt, lasst uns hinauf gehen zum Berg des Herrn, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen steigen" (Jes 4,3). Jesus selbst hat ausdrücklich gesagt, das Bund und Gesetz in Geltung bleiben und er nicht daran denkt, es  aufzuheben. Es kann also keine Rede davon sein, dass sich das alles erledigt hat. So stellt sich die Frage, ob Paulus nicht dasselbe tut, was er seinen Gegnern vorwirft: nämlich ein anderes Evangelium zu verkünden, einen anderen Gott, oder einen Gott der sich selbst nicht treu bleibt.


Es kommt noch ein weiteres hinzu, nämlich das Bedürfnis, klar erkennbar und unterscheidbar zu sein. Um wahrgenommen zu werden und identifizierbar zu sein, braucht es eindeutige Kennzeichen, was typisch ist, was einen auszeichnet, woran man jemand erkennen kann, Symbole, Rituale und Verhaltensweisen, Orte. Muslime z. B. erkennt man an ihrer typischen Art und Weise zu beten, Juden am Schabbat, Katholiken an der Messe, Baptisten an der Erwachsenentaufe, Pfingstler an der Zungenrede und Orthodoxe an der Liturgie. Manchmal frage auch ich mich, was kennzeichnet uns Evangelische eigentlich? Was macht uns aus, woran erkennt man uns? Vielleicht hat die Gemeinden in Galatien ähnliches beschäftigt. Die Judenchristen taten sich offenbar schwer damit, dass den heidenchristlichen Geschwistern nicht wichtig war, was ihnen selbst wichtig war. Dazu gehörte gerade auch die Beschneidung als Zeichen der Zugehörigkeit zum Gottesvolk. Was spricht dagegen, gerade damit ein Bekenntnis zum Gott Israels und zum Volk Gottes abzulegen?


Das ist aber der Punkt, an dem die Zweideutigkeit dieser Fragestellung sichtbar wird. Denn wenn es solche Kennzeichen, eine solche Auszeichnung, ein solches Erscheinungsbild geben soll, dann muss es einheitlich, verbindlich und verpflichtend sein. Dann muss es auch eine Instanz geben, die dies festlegt und die die Autorität hat, dies durchzusetzen. Dann gibt es wieder Hierarchie, Kontrolle, Sanktionen. Dann ist die Zugehörigkeit zur Gemeinde nur möglich durch Anpassung bzw durch Unterordnung unter eine vorgegebene Ordnung.

Paulus nennt diesen Zustand Knechtschaft und er unterstellt seinen Gegnern, eine solche etablieren zu wollen. Es ist übrigens interessant, dass Paulus vom "Gesetz" spricht und nicht von der "Tora". Wenn diese, die eigentlich einen Dokument des Vertrauensverhältnisses zwischen Gott und Mensch ist, dazu missbraucht wird, Rechtgläubigkeit und Wohlverhalten zu überprüfen und ggf. entsprechende Sanktionen zu verhängen, wird die Tora als Gesetz missbraucht. Wenn also Paulus von Gesetz spricht, meint er immer die Thora, die dazu missbraucht wird.


Der Knechtschaft setzt Paulus die Kindschaft entgegen. Wenn er von Freiheit spricht meint er eben dieselbe, die Freiheit der Kinder Gottes. Freiheit ist unbegrenztes Vertrauen, die Abwesenheit von Angst, tiefe Gewissheit, tief wurzelnde Geborgenheit, Spielen, Staunen, die Lust daran, sich auszuprobieren, Begeisterung am Lernen. Das Gegenteil davon ist ein Leben in Abhängigkeiten und unter Bedingungen, angepasst an vorgegebene Regeln. Es steht unter Druck, ist stressgefährdet und von Überforderung bedroht. Es nötigt dazu, sich immer wieder für was auch immer rechtfertigen zu müssen. Angst ist ein ständiger Begleiter.


Die Freiheit im Sinne solcher Gotteskindschaft ist Voraussetzung dafür, das Heranwachsende oder Erwachsene Lust und Leidenschaft dafür entwickeln, Verantwortung zu übernehmen, etwas zustande zu bringen, große und kleine Ziele oder Projekte zu verwirklichen, der Gemeinschaft oder der Öffentlichkeit zu dienen und sich auf diese Weise Anerkennung und Respekt zu erwerben. Eine solche Freiheit ist nur als mündige Freiheit denkbar. Sie setzt ein selbstständiges Urteilsvermögen und das Bestreben voraus, davon auch Gebrauch zu machen (vgl. Röm 12,1f.; Phil 4,8).


Die von Paulus gegründeten und betreuten Gemeinden waren zwingend darauf angewiesen, dass die Gemeindeglieder von solcher Freiheit Gebrauch machen. Zwar verstanden sich die Gemeinden als Teil der einen, weltweiten Kirche, sie waren aber noch nur sehr locker miteinander verbunden, etwa durch (Rund-)Briefe, Besuche, vielleicht auch durch Versammlungen von Gemeindevertretern ("Synoden"). Sie waren also sehr auf sich gestellt und mussten alle wesentlichen Entscheidungen in der Regel selbstständig treffen. Deswegen ist nachvollziehbar, dass Paulus einen so großen Wert auf die Verwirklichung der Freiheit legt. Die Gemeinden waren Orte, an denen die Freiheit eines Christenmenschen eingeübt wurde oder werden sollte – Labore der Freiheit gewissermaßen.


Auf die Kirchengemeinden der Gegenwart trifft das nicht zu. Sie sind nicht auf die Freiheit gegründet. Sie sind nicht auf sich selbst gestellt. Sie regeln ihre Angelegenheiten nicht selbständig. Sie sind eingebunden in einen riesigen und hochkomplexen Sozial-, Bildungs-, Medien- und Dienstleistungskonzern. Für den werden sie gebraucht gebraucht, zum einen für die Legitimation, damit dieser in der Öffentlichkeit als Kirche in Erscheinung treten kann, was ohne die Gemeinden nicht möglich wäre. Zum anderen sind sie die finanzielle Basis, denn jedes Gemeindeglied leistet seinen Beitrag in Gestalt der Kirchensteuer. Im Zentrum der kirchlichen Arbeit steht deswegen nicht die Verwirklichung der Freiheit, sondern alles dreht sich um die Mitgliedschaft und ihre Stabilisierung (vgl. z. B. www.ekir.de/url/Lou). Das wird natürlich nicht so gesagt, vielmehr wird dann etwas verschleiert davon gesprochen, man wolle das Evangelium unter die Leute bringen oder für den Glauben werben. Aber bei all diesen öffentlich wirksamen Aktivitäten und Projekten geht es letztlich darum. Trotzdem gelingt das nicht und die Mitgliedschaft geht seit vielen Jahrzehnten kontinuierlich zurück, was zu einer ebenfalls seit vielen Jahrzehnten andauernden kontinuierlichen Umstrukturierung geführt hat.

Wenn es nicht um die Einübung in die Freiheit geht, sondern um die Stabilisierung der Mitgliedschaft, dann ist das nicht die Idee irgend welcher irregeleiteten kirchenleitenden Planungsakteure, es muss vielmehr so sein, damit die finanzielle Basis nicht wegbricht und die Kirche in der geläufigen Gestalt zum Einsturz bringt. Die Kirchenleitungen stehen unter Druck und sind gezwungen, auf die Einnahmeseite schauen, wenn nicht alles zusammenbrechen soll.

Paulus musste darauf schauen, dass die Freiheit eines Christenmenschen im Mittelpunkt steht, andernfalls wären seine Gemeinden am Ende gewesen. Ob heute die Freiheit eines Christenmenschen – die Freiheit der Kinder Gottes – im Zentrum des Gemeindelebens steht oder nicht, wirkt sich zumindest nicht unmittelbar und kurzfristig aus. Ob die Bibel studiert wird, Gottesdienst gefeiert wird, der Name Gottes angerufen wird, der neue Bund in den Bundeszeichen Taufe und Abendmahl erneuert wird, Seelsorge geschieht, Unterricht stattfindet, der Glaube miteinander geteilt wird, gepredigt wird, Theologie betrieben wird oder ob das alles nicht geschieht, hat erstmal keine Auswirkungen auf die Existenz des Konzerns Kirche. Essentiell dagegen ist, dass die Menschen Kirchenmitglieder bleiben oder es werden. Darauf müssen sich alle kirchenleitenden Bemühungen konzentrieren und dahinter hat alles andere zurückzutreten. Was die Kirche theologisch ausmacht, hat sich dem unterzuordnen, was betriebswirtschaftlich, verwaltungstechnisch, publizistisch und organisationstheoretisch für sie erforderlich ist.

Kritiker solcher Verhältnisse sind gerne schnell bereit, von einer „babylonischen Gefangenschaft“ zu sprechen. Sie verweisen darauf, dass es sich um eine wirkliche Gefangenschaft handelt, aus der man sich gerade nicht mal so eben befreien kann. Was sie dabei übersehen ist, dass in einer babylonischen Gefangenschaft schon der Keim des Neuen angelegt ist. Wir werden uns selbst nicht aus der Gefangenschaft befreien können. Wir wissen nicht, wohin die Kirche in ihrer jetzigen Gestalt sich bewegen wird. Wir werden selbst nicht über ihr Schicksal entscheiden oder es aufhalten können. Aber wir wissen auch – so, wie Deuterojesaja und Martin Luther es wussten – dass das Neue schon im Schwange ist. Wir schauen auf das Neue: Die Befreiung zur Freiheit. Grenzenloses Vertrauen. Innere Klarheit. Tiefe Gewissheit. Selbstbewusste Entschlossenheit. Fester Boden unter den Füßen.


Ein paar Hinweise in eigener Sache: 99% dessen, was ich hier schreibe, ist irgendwo geklaut. Da ich aber weder eine Doktorarbeit schreibe noch Politiker werden will, verzichte ich auf Quellenangaben (Meine Hand-Bibliothek sieht so aus). Wer genaueres wissen will, kann mich gerne fragen. Einige wird es stören, dass ich hier nicht gendere. Das vermeide ich hier, um die Lesbarkeit der Texte nicht zu beeinträchtigen. Die vorhergehenden Sonntagsmeditationen (ab dem 22. August 2021) finden sie hier. In