Kanzelrede am 31. August in der Martinskirche Bottrop
Man kann die Menschheit und damit auch die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ganz grob in drei Kategorien einteilen. Das sind zum einen die, denen alles mehr oder weniger egal ist. Hauptsache sie haben ihre Ruhe. Die zweite Kategorie, das sind dann nicht mehr ganz so viele, aber immer noch beachtlich. Das sind die, die alles besser wissen. Wenn es nach ihnen ginge, dann hätten wir die Probleme nicht. Die dritte Kategorie, das sind dann nur noch ganz, ganz wenige. Das sind die, die Verantwortung übernehmen. Populistische oder rechtsextreme Autokraten – im Dritten Reich war es das selbe – brauchen natürlich die überzeugten Parteigänger, die 150%igen, aber viel wichtiger für sind die vielen Gleichgültigen, die alles mit sich machen lassen, die den Weg des geringsten Widerstands gehen und stromlinienförmig sich überall anzupassen in der Lage sind.
Wir leben in einer Demokratie und in einer Demokratie spielen die Parteien eine Schlüsselrolle, ohne Parteien keine Demokratie. Was meinen Sie – wie viel Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger wirken in einer der Parteien mit. Sagen wir, fünf Prozent. Oder gar 10 Prozent. Mehr als 10 Prozent wohl nicht, oder? Was schätzen Sie…
1,3% der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger gehören einer Partei an. Vielleicht 10 Prozent sind aktiv. Das ist wie in einer Kirchengemeinde, dort sind höchstens 5-10 Prozent aktiv beteiligt. Der Rest sind die Karteileichen (Immer, wenn wir im Presbyterium über Gemeindeglieder zu beraten hatten, die einer anderen Gemeinde angehören wollten, nannten wir das einen Antrag auf Umbettung einer Karteileiche). In den Parteien ist das genauso, nur das dort aus Karteileichen Parteileichen werden. Die wenigen Aktiven, die wenigen Engagierten, die sind es, die die Demokratie am Leben erhalten. Die wenigen, die sich für die und in der Demokratie einsetzen, sichern das Überleben der Demokratie.
In der Kirche ist es exakt ebenso. Die große Menge der Gleichgültigen, die nicht ganz so vielen, die immer schon gewusst haben, wie es geht und dann die wenigen, die wirklich Verantwortung übernehmen wollen. Peter Frank und ich und etliche, die heute morgen hier sind, wollen ausdrücklich zu diesen wenigen gehören, die Verantwortung übernehmen wollen. Wir hätten es nicht unbedingt nötig. Peter hat einen anderen Beruf oder andere Berufe und ich bin im Ruhestand und könnte meinen Lebensabend in aller Ruhe genießen.
Aber wir lieben unsere Kirche. Wir brennen sogar für sie. Womit nicht unbedingt die Evangelische Kirche von Westfalen oder die Evangelische Kirche im Rheinland oder die Evangelische Kirche in Deutschland gemeint ist. Es kann sein, dass es mit solchen Landeskirchentümern tatsächlich mal und nicht erst in ferner Zukunft zu Ende geht. Das muss nicht so sein, vielleicht habe sie eine neue Blütezeit vor sich – aber in besonders melancholischen Augenblicken habe mich schon sogar gefragt, ob ich mir das nicht sogar wünschen soll, dass es mit der EKvW und der EKiR auch mal vorbei ist. Die Kirche, die wir brennend liebe n, geht weit darüber hinaus, das ist die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, die Kirche, die Jesus folgt und Gott vertraut und sich dem Geist öffnet. Für die wollen wir tatsächlich Verantwortung übernehmen und für sie einstehen, welche Gestalt für sie auch immer jeweils und gerade die angemessene ist. Da komme ich gleich noch mal drauf.
Vor 100 Jahren, in den1920ger-Jahren, stand die evangelische Kirche schon einmal vor einem ähnlichen Umbruch wie heute. Auch damals gab es Menschen, die gerne zu denen gehören wollten, denen weder alles egal ist und die es auch nicht besser wussten, die aber Verantwortung übernehmen wollten. Die fanden sich und trafen sich zu mehreren jährlichen Konferenzen in einem kleinen Ort östlich der Oder, also heute in Polen gelegen, mit dem Namen Berneuchen. Dort ist die Berneuchener Bewegung entstanden, zu der bis heute mehrere Gemeinschaften gehören, unter anderem die Evangelische Michaelsbruderschaft, der Peter und ich (und andere heute hier Anwesende) angehören. Die Menschen, die sich damals in dem kleinen Ort Berneuchen trafen, sind auf eine ganz wesentliche und ganz entscheidende Entdeckung gestoßen, die sie in einem Satz gebündelt haben, der bis heute der Leitsatz der Berneuchener Bewegung ist, und dieser Satz lautet:
„Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind.“
Also nicht: wenn wir ihr angehören oder da Mitglied sind. Sondern: Wenn wir selber Kirche sind.
Das christliche Abendland ist zu dem geworden, was es ist, nicht durch Großevangelisationen, oder durch Kirchentage oder durch Medienkampagnen. Sondern allein dadurch, dass die Menschen ihren Glauben gelebt haben. Sie waren selber Kirche. Erst in zahlreichen Hausgemeinschaften und Hausgemeinden, später wurden Klöster gebaut. Und von ihnen, von Menschen, die gemeinsam ihren Glauben lebten und Kirche waren, ging ein Ausstrahlung aus. Das war faszinierend. Das hat unseren Kontinent nachhaltig geprägt.
Wie geht das, selber Kirche zu sein? Wie geht das heute? Wie stellen Sie sich das vor, wie würden sie selber Kirche sein, wie würden sie das tun, was muss man da machen?
Es gibt ganz unterschiedliche Wege dafür, ganz verschiedene Arten und Weisen. Hier stelle ich ihnen vor, wie die Berneuchener sich das denken, und dazu kann man drei Punkte nennen:
1. Sie suchen die Gemeinschaft.
2. Sie gestalten ihren Glauben
3. Sie feiern die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche.
Zum ersten: Sie suchen die Gemeinschaft. Wer zu einer Gemeinschaft der Berneuchener Bewegung gehört, wohnt nicht in einem Kloster, lebt nicht in einer Kommunität und gehört keinem Orden an. Die Berneuchener haben alle ihre Familie, sie leben irgendwo in der Stadt und auf dem Land, üben normale Berufe aus. Sie gehören einer normalen Kirchengemeinde an und sind auch sonst ganz normale Menschen. Aber sie treffen sich regelmäßig. Sie kommen immer wieder zusammen. Wir Michaelsbrüder treffen uns rund fünf Mal im Jahr, dreimal zu mehrtägigen Wochenenden, zweimal zu einem Tageskonvent. Dazu kommen noch die regionalen Treffen und die gegenseitigen Besuche und die Kontakte über Telefon, E-Mail und WhatsApp. Wenn ich z. B. zu einem unserer mehrtägigen Konvente fahre, die meistens in der Wasserburg in Kleve stattfinden, das ist eine katholische Tagungsstätte des Erzbistums Münster, dann weiß ich: Die Leute, die ich da treffe, die kenn ich (fast) alle. Sie sind mir vertraut und ich bin ihnen vertraut. Ich treffe nicht auf wildfremde Menschen, die ich zum ersten Mal sehe, und wir müssen uns erst Mal bekannt machen, wozu in der Regel relativ viel Zeit nötig wäre. Das ist fast wie nach Hause kommen, die Abläufe sind vertraut und ich weiß stets, was gerade dran ist. Das ist für mich sehr entspannend. Jedes Mal andere Leute zu treffen, wäre sehr anstrengend und nicht lange durchzuhalten. Ein ganz wesentliches Merkmal unserer Gemeinschaft ist, dass wir uns gegenseitig versprochen haben und verpflichtet sind, da zu sein, wenn die anderen auch da sind. Was auch nicht immer klappt, aber im Großen und Ganzen doch ganz gut funktioniert. Das macht ganz viel aus – aber jeder, der sich unserer Gemeinschaft anschließt, muss sich das klar machen, was das für ihn bedeutet – weswegen jeder, der sich ihr anschließen will, mindestens zwei Jahre erst einmal probeweise dabei ist, um das auszuprobieren, ob das so geht. Hinzu kommen die persönlichen Begegnungen. Jedes Mitglied unserer Gemeinschaft hat einen sogenannten Helfer, mit dem er sich regelmäßig trifft, um über sich selbst zu sprechen, über den eigenen Glauben, auch Glaubens- und sonstige Krisen – über alles was einen persönlich bewegt und beschäftigt.
Man muss also sich ernsthaft prüfen und eine Entscheidung treffen. Will ich das? Kann ich das? Oder wird mich das am Ende überfordern und ich muss mir eingestehen: So ist das doch nicht mein Weg. Das ist wichtig: Unsere Gemeinschaft verlangt von jedem, dass er sich auf sie einlässt und eine echte und verbindliche Entscheidung trifft, ein „commitment“, würden die Englischsprachigen das nennen.
Wir waren bei Frage, wie wir selber Kirche sein können und wie die Berneuchener das machen.
Das zweite Element ist: Wir gestalten unseren Glauben. Wir geben unserem Glauben eine
Gestalt, eine sichtbare, erlebbare Gestalt. Und hier kommt jetzt die „Regel des Geistlichen Lebens“ ins Spiel, die die Berneuchener sich schon in den 1920ger-Jahren gegeben haben. Sie besteht aus sechs Sätzen. Der erste dieser Sätze beschreibt, wie wir stille werden und uns im Schweigen üben. Im zweiten geht es um die Wahrnehmung und die Aneignung der Heiligen Schrift und das tägliche Leben mit ihr. Der dritte Satz befasst sich mit der Begegnung mit Gott im Gebet und im vierten geht es um die verbindliche Mitwirkung in der eigenen Ortsgemeinde und in deren Gottesdienst. Im fünften geht es um die Verantwortung füreinander und für andere und im sechsten darum, miteinander in Verbindung zu bleiben und die Gemeinschaft zu pflegen.
Wir kommen hier zu einer ganz entscheidenden Einsicht, und die lautet: Damit der Glaube sichtbar wird, erfahrbar, erlebbar, damit er Ausstrahlung hat, muss der Glaube Gestalt annehmen, und um den Glauben Gestalt zu geben, müssen wir ihn regelrecht einüben und üben. Üben, Üben, Üben. Das ist etwas, was in unseren Gemeinden weithin in Vergessenheit geraten ist. Sille, Loslassen, Gelassenheit kann man tatsächlich einüben. Der Umgang mit der Bibel muss geübt werden. Das Beten, etwa mit Hilfe der Psalmen lässt sich üben. Gottesdienst und Liturgie funktionieren nur, wenn man darin geübt ist. Katholische Christen sind übrigens im Gottesdienst viel geübte als Evangelische, und das spürt man da auch oft. Ich erlebe oft Gottesdienste, für den sich die Verantwortlichen großartige Ideen ausgedacht haben, tolle Einfälle hatten, die aber trotzdem keine echte, keine wirkliche Atmosphäre hatten. Und zwar deswegen, weil sie nicht geübt waren. Sie hatten sich das so schön gedacht, aber es wirkte irgendwie gewollt, unbeholfen, ungeübt. Wenn man aber in ein Kloster kommt oder nach Taizé oder in eine Gemeinde mit einer eingeübten Gottesdienstgemeinschaft, dann erlebt man Atmosphäre, das rührt einen an, das nimmt einen irgendwie mit. Das hat seinen Grund darin, dass die, die den Gottesdienst feiern und verantworten, darin geübt sind. Christinnen und Christen und Gemeinschaften, die in ihren Glauben geübt sind, die strahlen das aus. Die müssen dann nicht mehr groß was machen oder inszenieren, die müssen noch nicht einmal groß für ihren Gottesdienst und ihre Gemeinde werben. Das zieht andere an, das löst Resonanz aus. Wir Berneuchener wollen uns in unserem Glauben üben und auch andere dazu anstiften, dass sie das auch tun.
Wie gesagt, wir stellen uns die Frage, wie wir selber Kirche sein können und wie die Berneuchener sie beantworten.
Die dritte Antwort lautet: Sie feiern den Gottesdienst der einen, heiligen, katholischen, und apostolischen Kirche, oder anders ausgedrückt, den Gottesdienst der einen, heiligen, allgemeinen und bevollmächtigten Kirche. Unsere evangelischen Kirchen orientieren sich Bekenntnissen, die verbindlich definieren, was evangelisch sind. Dazu gehört zum Beispiel die Confessio Augustana, der Heidelberger Katechismus, der kleine Katechismus oder die Barmer Erklärung. Es gibt aber auch Bekenntnisse, die aus der Zeit der alten Kirche stammen und die von den Reformatoren ausdrücklich anerkannt wurden und weiter in Geltung blieben und bleiben. Dazu gehört etwa das Apostolische Glaubensbekenntnis, dass wir im Gottesdienst sprechen, aber auch (jetzt werde ich mich wie jedes Mal versprechen), das nizäno-konstaninopolitanische Glaubensbekenntnis aus dem 4. Jahrhundert (das ganz selten sich mal im Gottesdienst vorkommt). Dort bekennen wir: Wir glauben die eine, heilige, allgemeine (also: katholische) und bevollmächtigte (also: apostolische) Kirche. Wir sind evangelisch, wir gehören der evangelischen Kirche an. Aber wir gehören auch zu der einen Kirche – und es kann nur diese eine Kirche geben – die Jesus folgt, Gott vertraut und sich dem Geist Gottes öffnet. Das bringen wir ganz bewusst mit der Art und Weise zum Ausdruck, wie wir Gottesdienst feiern.
Einer unserer Michaelsbrüder, der vor kurzem völlig unerwartet verstorbene Ralf Dieter Gregorius, war Pfarrer in Koblenz(-Kartause), der kannte sich hervorragend mit allem, was mit Liturgie und Gottesdienst zusammenhängt, aus. Vor wenigen Tagen hatte ich mich mit einem Kollegen von ihm aus der Region darüber unterhalten, dass seine Pfarrstelle immer noch nicht wieder besetzt ist, und er sagt so in einem Nebensatz: „Der war ja halb katholisch.“ Da hab ich unwillkürlich gedacht: Nee! Ich will nicht halb katholisch sein. Das ist ja nicht Fisch und nicht Fleisch. Wenn, dann ganz katholisch! Ich bin doch katholisch. Nicht römisch-katholisch. Aber ich gehöre zu der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche. Und das kann nur die eine Kirche sein. Es kann nicht zwei oder mehr Kirchen geben. Es gibt nur die eine Kirche. Und durch die Jahrhunderte und Jahrtausende ist der Gottesdienst dieser einen Kirche gewachsen, angefangen mit den Psalmen, die zwei-, dreitausend Jahre alt sind, bis hin zu den Liedern, die vielleicht erst ist einige Jahre alt sind. Da spiegelt sich die ganze, Jahrtausende alte Geschichte des christlichen Abendlandes wieder. Die unterschiedlichsten Epochen haben da ihre Spuren hinterlassen. Manche sagen, das ist ja katholisch. Wir haben tatsächlich manche Elemente aus der katholischen Messe übernommen, bis dahin, dass wir von eine „Evangelischen Messe“ reden. Christen aus die römisch-katholischen Kirche würden allerdings sagen: Das ist doch nicht katholisch. Katholisch ist was ganz anderes. Und genau darum geht es. Wir feiern weder den evangelischen Gottesdienst noch die römische Messe. Wir feiern den Gottesdienst der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche. Wenn es nicht im Zuge der Reformation zur Spaltung zwischen protestantisch und katholisch gekommen wäre, dann wäre das allgemein der christliche Gottesdienst. Für die einen zunächst ungewohnt und für die, die ihn zu feiern gewohnt sind, eine geistliche Heimat.
Man könnte noch viel dazu sagen, aber ich habe meine Zeit schon überschritten. Nur eine, mir sehr wichtige Bemerkung möchte ich doch noch machen. Dass die Rechten und die Populisten in unserer Gesellschaft und weltweit so viel Einfluss gewonnen haben, hat auch damit zu tun – dass es zu wenige gibt, die geübt sind in der Gelassenheit, im Loslassen können, die geübt sind im Vertrauen, im Gottvertrauen. Das kann man üben. Die zuwenig geübt sind, mit sich selbst und mit anderen, offen, ehrlich und wahrhaftig umzugehen. Die zu wenig geübt sind, sich anderen mitzuteilen und das Leben miteinander zu teilen. Die zu wenig geübt in Verlässlichkeit und Verbindlichkeit geübt sind. Die zuwenig in Achtsamkeit und Wachheit und Aufmerksamkeit geübt. O ja, wir können tatsächlich Einfluss nehmen, nicht nur auf die Kirche, sondern auch auf die Gesellschaft und auf die Umwelt, in der wir zu Hause sind. Aber dafür braucht es Geduld, Ausdauer und einen langen Atem und die Entschlossenheit, diese aufzubringen.
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