Vorbemerkung: Die kursiv gesetzten Passagen wurden beim Vortrag am 26. September aus Zeitgründen nicht mündlich vorgetragen.
“Gefährliche Reaktionäre!”
So schätzte Dietrich Bonhoeffer die Berneuchener ein. Dass er sowohl menschlich, wie auch theologisch so weit von ihnen gar nicht weg war, nimmt man auf den ersten Blick nicht wahr. Zugleich ist diese Einschätzung, ein echtes Vor-Urteil Bonhoeffers und ein Hinweis darauf, dass die Zeit für die Berneuchener damals noch nicht gekommen war. Hier soll deutlich werden, dass die Berneuchener Bewegung damals alles andere als reaktionär, sondern vielmehr sehr weit vorausschauend gewesen ist. Und dass sich das gerade jetzt, etwa 100 Jahre später, auszahlt und wir davon profitieren können.
100 Jahre lang wurde die parochiale Ordnung der evangelischen Kirche nicht ernsthaft in Frage gestellt.
Aber blicken wir noch einmal zurück: 1919 hörte die evangelische Kirche auf, Staatskirche zu sein. Der Kaiser war in der preußischen Kirche nicht mehr summus episcopus und die Kirche keine Angelegenheit mehr, die vom Staat verwaltet werden musste. Es war eine Zeit der großen Verunsicherung. Evangelisches Christentum war traditionell kaisertreu und sollte sich jetzt schlagartig demokratisch gebärden. Aber es war auch einer Zeit der Aufbrüche, in Gestalt von Karl Barth und der Wort-Gottes-Theologe oder der Lutherrenaissance, der Wiederentdeckung Luthers, oder des “Jahrhunderts der Kirche” von Dibelius, der die Freiheit vom Staat für die Kirche als echte Chance ansehen wollte - “habemus ecclesiam! Wir haben eine Kirche!”. Es ware eine Zeit des Aufbruchs in der alttestamentlichen und neutestamentlichen Exegese und auch im Bereich der kirchlichen Bildung entstanden viele neue Ansätze und Perspektiven, und auch die Berneuchener Bewegung gehörte zu den Aufbrüchen, auch wenn die eher im Schatten anderer Entwicklungen stand.
An der behördenartigen, staatsanalogen Struktur mit Melderegister, Steuerwesen, Beamte und Kirchenmitgliedern als Untertanen änderte sich trotz der Trennung vom Staat jedoch nichts und sie wurde auch nirgends in Frage gestellt, auch von den Berneuchenern nicht.
Das änderte sich schlagartig, als die Nationalsozialisten auf die Kirche zugriffen, da entwickelte sich auf der einen Seite die gleichgeschaltete Deutsche Evangelische Kirche im Sinne des Führerprinzips, auf der anderen Seite entstand die in sich nicht einheitliche Bekennende Kirche, die sich unter dem Druck der Umstände und ohne die Zeit zu haben, dies ekklesiologisch ausreichend zu reflektieren, in Bekenntnisgemeinschaften, Bruderräten und Synoden ordnete.
Die ersten Synoden nach dem zweiten Weltkrieg, die allererste fand schon im August 1945 in Treysa statt, unter Anwesenheit von Karl Barth und Wilhelm Stählin, waren Schauplatz heftiger Streitigkeiten, vor allem zwischen dem “Vulkan” Martin Niemöller und dem “Eisberg” Hans Meiser, bayrischer Bischof; die Bezeichnung “Vulkan” und “Eisberg” stammt, wenn ich das richtig weiß, von Theophil Wurm, dem württembergischen Bischof, der alles dafür tat, dass der Laden nicht auseinanderflog und die Einheit der Landeskirchen einigermaßen gewahrt blieb. Niemöller wollte an den neu entstandenen Strukturen der Bekennenden Kirche anknüpfen, die Lutherischen unter Meisers Führung wollten an den überkommenen Strukturen festhalten. Faktisch passierte das, was Dibelius mal zum Ausdruck brachte, man wolle da anknüpfen, wo man 1933 aufgehört habe. Letzlich setzte sich die konsistorialen Struktur zulasten der in der Bekennenden Kirche entstandenen bruderrätlichen Ordnungen durch. Die Paragraphen der Weimarer Verfassung, die der öffentlich-rechtlichen Kirchengestalt in den 1920ger-Jahren zu Grunde lag, wurde wortwörtlich als Zitat in das Grundgesetz übernommen. Das gilt zum Beispiel auch für die Rheinische Kirche, in der man sich gerne auf die Bekennende Kirche und die Barmer Erklärung beruft; sie bezeichnet sich als presbyterial-synodal geordnet, ist aber genauso, mit einigen kosmetischen Abstrichen, konsistorial aufgebaut. Seit den 1960ger-Jahren stieg die Zahl der Kirchenaustritte langsam an, was schon damals für eine gewisse Unruhe sorgen, auch für neue Aufbrüche, ich denke zum Beispiel an Ernst Lange mit seiner Ladenkirche in Spandau oder der “Kommunikation des Evangeliums”, ein Begriff der auch heute noch in den Lehrbüchern der praktischen Theologie einen festen Platz hat. Aber die öffentlich-rechtliche, gewissermaßen staatsanaloge Struktur wurde zwar hin und wieder diskutiert (das war auch schon im 19. Jahrhundert der Fall), aber nicht wirklich in Frage gestellt. Das änderte sich auch nicht, als etwa von den 1970/80ger-Jahren die Erkenntnis durchsetzte, dass man die Kirchenmitglieder nicht mehr als Untertanen, sondern viel mehr als Kunden, von denen man etwas will, behandeln muss. Das ist im wesentlichen bis heute so - oder war bis vor kurzen so. Heute heißt das “Mitgliederorientierung”.
Die parochiale Struktur bricht derzeit auf dramatische Weise zusammen.
Diese Strukturen, die überkommenen parochialen Ordnungen, brechen in diesen Jahren auf geradezu dramatische Weise zusammen. Jetzt macht das Schlagwort von der postparochialen Kirche die Runde. Die bisher gewohnte und selbstverständliche Gliederung in Parochien, also in Gemeinden, die auf ein bestimmtes, genau definiertes Gebiet bezogen waren und festlegen, zu welcher sich ebenfalls in dem Gebiet befindenden Menschen gehörten, löst sich auf und damit lösen sich ganze Gemeinden auf. Ich war von 1993 bis 2008 Pfarrer an der Christuskirche in Düsseldorf-Oberbilk. Diese Kirche ist heute die Düsseldorfer Jugend- und Kulturkirche, sie ist also keine Gemeindekirche mehr. Zum Sonntagsgottesdienst müssten die Oberbilker heute acht Straßenbahn-Stationen weiterfahren und das tut keiner. Das heißt, die Christuskirchengemeinde gibt es praktisch nicht mehr und es sieht an anderen Stellen ähnlich aus. Im März 2028 werden mit den Presbyteriumswahlen die Kirchengemeinden aufgelöst, und ganz Düsseldorf wird mit 630.000 Einwohnern und (noch) 80.000 Evangelischen eine einzige große Kirchengemeinde sein, was früher, bis in die frühen 1950ger-Jahre hinein, schon einmal so war (allerdings ohne Außenbezirke wie Urdenbach, Kaiserswerth oder Gerresheim). Die Evangelischen in Düsseldorf haben kaum bislang eine Ahnung, was da auf sie zukommt bzw. was sie da verlieren. Der persönliche Bezug, bzw. die persönliche Beziehung zur Ortsgemeinde bricht weg und es ist noch völlig unklar, was an die Stelle treten soll.
Werfen wir einen Blick darauf, wie die Kirchenleitungen, die natürlich unter einem wahnsinnigen Druck stehen, darauf reagieren und damit umgehen. Ich nenne hier einige der Maßnahmen, mit denen sie auf die beschriebene Entwicklung reagieren, ohne darauf näher eingehen zu können und zu müssen.
- Intensivierung der Mitgliederkommunikation
- Plausibilisierung der Kirchenmitgliedschaft
- Anpassung kirchlicher Arbeit z.b Pluralisierung gottesdienstliche Angebote und Kasualagenturen
- Ermöglichung punktueller Teilnahme am kirchlichen Leben.
- Einrichtung von sogenannten Erprobungsräumen, um Raum für Experimente und Innovationen zu ermöglichen.
- Rückbau kirchlicher Infrastrukturen (Gemeindehäuser, Tagungshäuser, Kirchengebäude)
- Zentralisierung kirchliche Organisation
- Regionalisierung und Aberkennung des Körperschaftsstatus von örtlichen Kirchengemeinden und dessen Übertragung auf übergeordnete Ebenen.
- Gemeinschaftsgemeinden, Gemeinden als eingetragene Vereine und Personalgemeinden,
- Gabenorientierte Arbeitsteilung in Dienstgruppen.
- Fundraising,
- Aufwertung des Ehrenamtes,
- Quereinstieg als Zugang zum Pfarrberuf
-
Pfarramt nicht mehr im öffentlich-rechtlichen privatrechtlich.
Die Reaktionen auf den kirchlichen Wandel rufen Fragen hervor, die unbedingt beantwortet werden müssen.
Wir können davon ausgehen, dass die Kirchenleitungen professionell und effektiv arbeiten und die Lage nüchtern im Blick haben. Es gibt keinen Grund, KirchenleitungsBashing zu betreiben, was ich, das gebe ich zu, bisher auch gerne gemacht habe. Aber dass die Lage so ist, wie sie ist, dafür sind die Kirchenleitungen nicht verantwortlich, und dass sie darauf in irgendeiner Weise reagieren müssen, dafür sind sie ja da, das erwarten wir von ihnen. Dennoch möchte ich insgesamt acht Fragen stellen, von denen ich glaube, dass wir darauf unbedingt eine Antwort finden müssen.
Die erste Frage ist die nach der Zielsetzung der Maßnahmen, mit denen auf die von der Säkularisierung hervorgerufenen Entwicklungen reagiert wird. Da die Kirchen ja unternehmerisch denken und handeln wollen, müssen sie die Ziele zwingend auch so formulieren, dass sie überprüfbar sind und sie müssen festlegen, was passiert, wenn die Ziele nicht erreicht werden. Soll der Mitgliederrückgang gebremst oder gestoppt werden? Sollen neue Mitglieder gewonnen werden? Sollen neue Einnahmequellen erschlossen werden, so dass Einnahmen und Ausgaben sich decken? Soll die Zahl derer, die an kirchlichen Veranstaltungen teilnehmen oder kirchliche Angebote wahrnehmen, gesteigert oder stabil gehalten werden? Oder geht es einfach nur um Anpassung an erwartete und prognostizierte Verhältnisse?
Eine andere Frage ist die nach der Erkennbarkeit, Unterscheidbarkeit, Identifizierbarkeit. Wenn die Kirchenleitungen z. B. ein möglichst vielfältiges Gottesdienstangebot schaffen wollen, um möglichst unterschiedlichen Zielgruppen und Sinus-Mileus gerecht zu werden, wie stellen Sie sicher, dass darin die evangelische Kirche als evangelische erkennbar wird und sichtbar wird, was das Evangelische kennzeichnet und ausmacht? Um sich mit der evangelischen Kirche identifizieren zu können, ist das zwingende Voraussetzung.
Die dritte Frage knüpft an die Botschaft der vielen Angebote an, von denen wir hoffen, dass sie auf Interesse stoßen, aber eine große Scheu davor haben, den Menschen etwas zuzumuten. Das Wort Gottes, das Evangelium ist aber keineswegs nur Angebot und Einladung, sondern auch Zumutung, Zuspruch und Anspruch. Man hat den Eindruck, dass gerade sehr viel billige Gnade auf den Markt geworfen wird.
Die vierte Frage richtet sich an die wachsende Komplexität der kirchlichen Strukturen. Wenn die Kirchenleitungen ihre Pläne umsetzen wollen, schaffen sie ein außerordentlich komplexes System, das sich nur noch zentral und hoch professionell steuern lässt. Dass die Evangelischen "selber an der Kirche bauen”, wird damit deutlich eingeschränkt bis unmöglich gemacht. Ich habe in meiner aktiven Zeit erlebt, wie Pfarrstellen abgebaut und zugleich immer wieder neue, hoch dotierte Verwaltungsstellen geschaffen wurden.
Wenn man bedenkt, dass Gemeinden ihrem Wesen nach Netzwerke von nach innen stabilen und nach außen offenen Beziehungen sind, erscheint fraglich, ob die angestrebte event-artige und auf punktuelle Teilnahme ausgerichtete Struktur kirchlicher Veranstaltungen wie z. B- Pop-Up Hochzeiten dem noch wirklich gerecht werden. Wird auf diese Weise nicht eher ein Publikum geschaffen als eine Gemeinde?
Wenn es richtig ist, dass es zwischen der Säkularisierung und den Phänomenen des Rechtspopulismus bzw Rechtsextremismus einen engen Zusammenhang gibt, und zwar in der Weise, dass die Säkularisierung Identitätsverunsicherung und Identitätsverlust bewirkt, die eben einer der wesentlichen Gründe für die die demokratischen Kulturen schwer belastenden rechten Auswüchse sind, dann wäre es doch gerade eine Aufgabe für die Kirche, Verwurzelung zu ermöglichen, Heimat finden zu lassen und Antwort auf die Frage geben zu, wo wir hingehören, worauf wir uns verlassen können, woran wir uns orientieren können, ohne diese Orientierungen ständig hinterfragen oder rechtfertigen zu müssen. Das würde aber eine völlig andere Herangehensweise nötig machen.
Außerdem stellt sich die Frage: Was für eine Ausstrahlung hat die Kirche eigentlich, welche Atmosphären ruft sie hervor, welche Resonanzen löst sie aus? Die oft sehr intensiven Reformbemühungen in den evangelischen Kirchen richten sich in erster Linie darauf, dass die Leute dabei bleiben, Mitglieder bleiben und damit auch die finanzielle Basis gesichert wird. Die Kirchen betreiben eine exzellente Öffentlichkeitsarbeit, und die allermeisten würden, wenn sie gefragt würden, sich eher positiv über die evangelische Kirche oder zumindest nicht negativ äußern. Die Frage stellt sich aber, was berührt die Leute, was rührt sie an, was fasziniert sie, was löst bei ihnen Resonanz aus. Bis in meine Familie und in meinen Freundeskreis hinein erlebe ich, dass sie oft intensiv mit religiösen Fragen beschäftigt sind (was gestern bei der Trauerfeier für meine Mutter deutlich spürbar war), aber keine Ahnung haben, warum die evangelische Kirche sie irgend etwas angehen sollte. Ausstrahlung, Erzeugung von Resonanz, Faszination und das Gespür, dass mich da etwas unbedingt angeht – das alles braucht zwar auch die professionelle Präsenz in den Medien und in der Öffentlichkeit und ohne die wird es nicht gehen, aber das kann dadurch nicht ersetzt werden.
In den 50ger-Jahren tauchte der Begriff der Dauerreflexion auf, und die These war damals, dass in der evangelischen Kirche (nicht nur dort) die Dauerreflexion institutionalisiert (Helmut Schelsky, Schüler von Arnold Gehlen und Lehrer Niklas Luhmann), also zu einem dauerhaften Zustand wird. Die Säkularisierung lässt in Frage stehen, was früher nicht in Frage gestellt wurde. Wenn das, was bisher selbstverständlich war und von niemandem in Zweifel gezogen wurde, sei es die christliche Lehre, sei es die Ordnung des Gottesdienstes, sei es die Rolle des Pfarrers, sei es die Frömmigkeitspraxis, wenn das alles einmal hinterfragt wird, dann führt dieses In-Frage-stellen nicht zu neuen, dann wiederum fraglosen Selbstverständlichkeiten. Vielmehr muss ich von nun an mich stets vergewissern, weil sich nichts mehr von selbst versteht, z. B. dass ich glaube, wie ich glaube, was die Bibel für mich bedeutet, wer Jesus ist, wie das mit der Auferstehung gemeint ist und mit der Jungfrauengeburt usw. Die evangelische Kirche ist so zum Ort des dauerhaften Gespräches, der dauerhaften Reflexion geworden, in Gesprächs- und Bibelkreisen, in Predigtnachgesprächen, in Gemeindeseminaren, Akademien usw., wir kommentieren, interpretieren, reflektieren, diskutieren. Es leuchtet ein, dass eine Gemeinde, in der der Diskurs im Mittelpunkt steht, eine andere Atmosphäre hervorruft, eine andere Ausstrahlung hat, andere Resonanzen auslöst als eine Gemeinde, in der unbekümmert und einfältig der Glaube erzählt, inszeniert und gestaltet wird.
Trotz oder vielleicht auch wegen dieses Phänomens der institutionalisierten Dauerreflexion stellt sich die Frage nach der fehlenden Sprachfähigkeit der Evangelischen. Was sagen die Evangelischen, warum sie evangelisch sind? Was muss geschehen, damit Menschen in der Lage sind, zur Sprache zu bringen, was und wie sie glauben.
Die Säkularisierung lässt sich nicht beeinflussen.
Das sind die Fragen, die unbedingt beantwortet werden müssen. Auch wenn die Kirchenleitungen ihren Job machen und professionell arbeiten, habe ich auch den Eindruck, dass sie, was das betrifft, mit ihren Möglichkeiten an Grenzen stoßen, die sie selbst nicht mehr überschreiten können – das aber auch nicht müssen. Es ist schlicht nicht ihre Aufgabe, oder anderes formuliert: Was von unten wächst, kann nicht von oben gesteuert werden. Recht, Finanzen, Personalplanung, Gebäudebewirtschaftung, Digitalisierung, Öffentlichkeitsarbeit, Repräsentation - darum haben sich Kirchenleitungen zu kümmern und das tun sie. Aber wenn es darum geht, dass Glaube aufbrechen und wachsen und gelebt und gestaltet wird - das können Kirchenleitungen nicht leisten. Auch wenn der Glaube sich zurückentwickelt, oder “verdunstet”, wie das mal hieß, darauf haben Kirchenleitungen keinen Einfluss und das kann man ihnen auch nicht anlasten.
Es sind zwei in den Niederlanden wirkende Autoren, die mir den Blick dafür geöffnet haben. Arnoud van den Deijl hat ein Buch geschrieben “De Toekomst van de Kerk” (Die Zukunft der Kirche), das ich nicht gelesen habe, weil es nur auf holländisch erschienen ist, aber ich habe von ihm einen Vortrag gehört: Ihr seid nicht schuld, hat er gesagt, wenn die Kirchen von den Menschen verlassen werden. Er selbst habe alles ausprobiert, er hat überholte Auffassungen entmythologisiert, er hat Gottesdienste modernisiert, er hat Gemeinden attraktiv gemacht, als vitales Gasthaus, indem sich auch Menschen wohl fühlen, die nicht oder nur schwer glauben können, er hat biblische Geschichten aktualisiert, er hat die Kirche sozial aktiviert, er hat Kunst als Zugang zum Glauben genutzt, er hat sich auf das “Erlebnis” fokussiert. All das hat er ausprobiert in seinem langen Dienstleben - um zu entdecken, dass die Säkularisierung ein ganz tief eingewurzelter Prozess ist, auf den wir schlicht so gut wie keinen Einfluss haben. Wir haben keine Möglichkeit, diese Entwicklung zu steuern. Das müssen wir uns erst einmal eingestehen und dann sehen, wie wir damit umgehen. Ein andere Niederländer, Jan Loffeld, eigentlich ein Deutscher, der von Niederrhein stammt, aber in Utrecht katholische praktische Theologe lehrt, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel “Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt”. Darin schreibt er unter anderem, dass wir geradezu unter einem Optimierungszwang stehen. Eigentlich sind wir gut, aber nicht gut genug. Wir müssen noch besser werden. Bisher haben wir nur geredet, aber jetzt müssen wir was tun. Jan Loffeld zitiert Mark Twain: “Als wir bemerkten, dass unsere Konzepte keine Wirkung mehr erreichten, brachten wir die nur umso intensiver zur Anwendung.” (Ich denke, dass das berühmte Impulspier “Kirche der Freiheit” von 2006 ein geradezu klassisches Beispiel dafür ist). Um noch mal Aarnoud van den Deijl zu zitieren: “Wir haben in der Kirche das Marktdenken übernommen. Damit wurden Kirche und Glaube zu einem Produkt, das wir verkaufen mussten… Mit marktorientiertem Denken gewinnen wir höchstens neue Kunden, und meist nicht einmal das, aber sicher keine Gläubigen. Damit ist die Kirche zu Hauptfigur ihrer eigenen Geschichte geworden, aber die Hauptfigur ihrer Geschichte ist Gott, die Kirche ist nur der Erzähler.” (Soweit van den Deijl.)
Also: die Säkularisierung ist ein Vorgang, der sich ähnlich gering beeinflussen lässt wie der Lauf des Mondes. Das ist eine Aussage, die die Gesamtentwicklung betrifft. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass an einzelnen Orten und zu bestimmten Zeiten sehr wohl Glaube entstehen und wachsen kann. Dies mag bis auf weiteres keinen nennenswerten Einfluss auf die Gesamtentwicklung haben, dennoch wissen wir vom Anfang der Kirchengeschichte, das steht dazu nicht im Widerspruch, steter Tropfen den Stein höhlt (Christoph Markschies, Loffeld S. 107). Gelebter und verwirklichter Glaube bleibt nicht ohne Wirkung und nicht ohne Spuren. Das aber ist etwas, das nicht in der Verantwortung der Kirchenleitungen liegt.
Den Berneuchenern geht es nicht um die Steuerung des Kirchengeschehens, sondern um Vergegenwärtigung, die sie performativ inszenieren.
Hier setzen die Berneuchener ein. Ihnen geht es nicht um die Steuerung des Kirchengeschehe oder um Kirchenentwicklung, auch nicht um Reflektion und Argumentation. Sie wollten weniger über das Wort Gottes reden, es soll sich vielmehr ereignen. Sie wollen nicht dauerhaft darüber reflektieren, – ihnen geht es vielmehr darum, die Vergegenwärtigung der biblischen Geschichte, der Christus-Ereignisses, des Neuen Bundes - jetzt nenne ich einen Begriff, der in der praktischen Theologie geläufig ist - zu “inszenieren”. Der Begriff Inszenierung kommt vom Theater her und meint dort die Realisierung einer Idee durch einen Regisseur, um sie auf der Bühne zu spielen. In unserem Zusammenhang ist damit die Inszenierung einer gegenwärtigen, Mitvollzug ermöglichenden Wirklichkeit gemeint, die auf diese Weise anschaulich und erlebbar wird. Die Berneuchener wollten weniger über den Glauben reden, sie wollten glauben und ihren Glauben gestalten. Nicht über Gott reden, sondern Gott begegnen. Sie spielen das, was sie glauben und das auf diese Weise real, wirklich wird. Die sechs Sätze der Regel des Geistlichen Lebens haben die Vergegenwärtigung zum Ziel, die sie performativ inszenieren. Performative Inszenierungen gibt es woanders auch. Performativ heißt, dass nicht nur etwas dargestellt wird, sondern, indem es dargestellt wird, und erst dadurch, wirklich wird. Wenn der Richter im Namen des Volkes ein Urteil verkündet, ist das eine performative Inszenierung. Wenn der Schiedsrichter die gelbe Karte oder rote Karte zückt, ist das eine performative Inszenierung, die schlagartig sehr viele Emotionen weckt. Wenn ich bei einer Oscar Preisverleihung ankündige: "the winner is…", dann folgt mit der Nennung des Namens des Oscar-Preisträgers eine performative Inszenierung. Wir sehen also, performative Inszenierungen können sehr emotionale Ereignisse sein. Wenn ich zu einem Kind oder einem Erwachsenen am Taufbecken sage, ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, ist das eine performative Inszenierung, eine Vergegenwärtigung.
Die sechs Sätze der Regel des Geistlichen Lebens dienen der Einübung in die Vergegenwärtigung
Die sechs Sätze der Regel des Geistlichen Lebens wollen nicht erklären oder erläutern, sie wollen zur performativen Inszenierung und Vergenwärtigung der biblischen Geschichte, des Christus-Ereignisses, des Neuen Bundes anleiten. Das möchte ich jetzt an den einzelnen Sätzen veranschaulichen (wobei ich aus Zeitgründen nur auf die ersten vier Sätze eingehen kann, aber dafür auf den vierten etwas gründlich eingehen möchte).
Der erste Satz der Berneuchener Regel dient der Vergegenwärtigung meiner selbst.
Er lautet:
Jeder Mensch braucht Zeiten der Sammlung und Stille.
Ich bin bereit, diesen Freiraum zu suchen und zu bewahren.
Sammlung und Stille dienen dazu, “sich selbst zu präsentieren”, sich zu vergegenwärtigen.
Gott redete zu Abraham und Abraham antwortete: Hier bin ich (Gen 22,1). Jakob wird von Gott gerufen, und er antwortet: Hier bin ich (Gen 46,2) Mose wird von Gott aus dem brennenden Dornbusch angesprochen und Mose antwortet: Hier bin ich (Ex 3,4). Samuel wird vom Herrn gerufen, und er antwortet: Siehe hier bin ich (1.Sam 3,4). Von Ananias, der zu Paulus geschickt wird, wird das berichtet. Bei einer Priesterweihe wird der Weihekandidat mit Namen aufgerufen, und er antwortet: Adsum Domine, siehe, hier bin ich, bevor er sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legt, während die Gemeinde die Allerheiligen-Litanei betet. Im Englischen ist es noch deutlicher, I am present, Lord. Wir vergegenwärtigen uns selbst, wir kommen im Hier und Jetzt an, wir sind mit allen Sinnen da, in der Gegenwart: “Siehe, hier bin ich, Herr”. Freunde des Tanzens wissen, dass jeder Tanz eine Grundfigur hat, einen Schritt, der ganz simpel ist und die auf vielfältige Weise variiert wird, aber den muss man erstmal drauf haben, bevor die einzelnen Figuren eingeübt werden. Die Grundfigur des geistlichen Lebens lautet: Siehe, hier bin ich, Gott. Und die muss man erstmal drauf haben und ohne sie würde nichts funktionieren.
Der zweite Satz dient der Vergegenwärtigung der biblischen Geschichte.
Die Bibel ist Grundlage christlichen Glaubens und Lebens.
Ich bin bereit, in ihr heimisch zu werden und mein Leben danach auszurichten.
Ich bin dankbar dafür, dass ich im Studium gelernt habe, biblische Texte zu analysieren, also gewissermaßen in ihre Einzelteile auseinanderzunehmen. Ich musste mir erst mal klar machen, dass, wenn man sie wirklich verstehen will, man die Bibel nicht ein ganzes Leben nur so naiv lesen oder vorlesen kann wie im Kindergottesdienst und lernen muss, sie kritisch und historisch zu lesen. Was ich weniger und erst später gelernt habe ist, sie wieder zusammenzusetzen, also: sie schlicht zu erzählen, in sich sinnvoll, bedeutungsvoll und stimmig und spannend zu erzählen, als eine Geschichte von etwas, was mich unbedingt angeht. Wir müssen, wie man das mal formuliert hat, zu einer “zweiten Naivität” oder “aufgeklärten Naivität" finden. Ohne sie könnten wir am Heiligen Abend auch nicht in die Christvesper gehen und uns von der Weihnachtsgeschichte anrühren lassen, sondern müssten uns damit auseinandersetzen, dass das ja so unmöglich passiert sein kann. Die biblische Geschichte ist eine reale, sich aus vielen Geschichten zusammensetzende, zusammenhängende Geschichte, und sie ist unsere Geschichte und meine und deine Geschichte. Aber die biblische Geschichte zu erzählen, uns gegenseitig und immer wieder zu erzählen, auch das ist Sache kontinuierlichen Übens. (Ich habe übrigens in meinem Bücherregal kaum noch Einzelkommentare zu einzelnen biblischen Büchern stehen, nachdem ich die bei Predigtvorbereitungen so gut wie nie in die Hand genommen habe, ich hoffe, dass das nur eine lässliche und keine Todsünde ist, wenn ich viele davon aussortiert habe. Viel wichtiger sind für mich die Zusammenhänge, deswegen stehen bei mir stattdessen neben den Einleitungen mehre biblische Theologien im Regal, etwa die von Jörg Jeremias, Konrad Schmid, Ulrich Wilckens oder Breward Childs. Und zwei Bücher sind mir besonders ans Herz gewachsen, die zwar voraussetzen, was die Wissenschaft herausgefunden hat, aber selber nicht wissenschaftlich sind, sondern einfach nur biblische Geschichte im Zusammenhang erzählen wollen; das eine ist “Der Name über alle Namen” von Gisela Kittel; das andere “Mit Gott unterwegs” bzw. “Ich bin der Weg” von Frère John de Taizé, beide jeweils aus zwei Bänden bestehen und beide leider vergriffen, aber wohl antiquarisch erhältlich. Damit lebe ich schon viele Jahre)
Im dritten Satz der Regel geht es um die Vergegenwärtigung Gottes selbst.
Das Gebet gleicht dem Atem der Seele.
Ich will mich betend Gott anvertrauen, mich seiner Gegenwart öffnen
und fürbittend meinen Mitmenschen verbunden bleiben.
Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph, hatte die Initiative zu einer Ich-Du-Philosophie oder Philosophie des dialogischen Prinzips „Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es“. Dem Grundwort Ich-Du entsprechen Begegnung und Gegenwärtigkeit und dem Grundwort Ich-Es entsprechen Distanz und Erfahrung. “Der Mensch wird am Du zum Ich.” ich kann nur ich sein, weil es ein Du gibt.
Das Besondere dieser Philosophie ist, dass sie aus einer tiefen, jüdischen Spiritualität entwickelt wurde, aber eben zu einer Philosophie, einer Anthropologie, nicht zu einer Theologie, mit Aussagen nicht über den Glauben, sondern über den Menschen, der sich, und wenn er sich noch so säkular und religionslos gibt, der Ich-Du-Relation nie entziehen kann, weil sie wesentlich zu seinem Menschsein gehört und sie es ist, die ihn zum Menschen macht. Die biblische Geschichte gibt dem Grundwort Ich-Du Gestalt. “Zu der Zeit fing man an, den Namen des Herrn anzurufen” heißt es in Gen 4,26. Abraham baute dem Herrn einen Altar und rief den Namen des Herrn an, Gen 12,8; hier ist interessanter Weise nicht vom Opfern die Rede, der Altar markiert den Ort, an dem der Name des Herrn angerufen wird - und das tut er bis heute, der Altar ist das Herzstück jeder Kirche. Der Name des Herrn ist eine feste Burg (Spr 18,10), du sollst ihn nicht missbrauchen (Ex 20,7), vielmehr ihn beim aaronitischen Segen auf die Israeliten legen, dass er sie segnet. Salomo baut dem Namen Gottes ein Haus, der zum Ort der Anrufung wird, und aus der Anrufung erwachsen die Psalmen, die seitdem bis heute ununterbrochen der Anrufung des Namens Gottes dienen, auch uns, und wir singen und beten sie alle und ungekürzt, wie das seit Jahrtausenden geschieht, ob sie nun inhaltlich gerade passen oder nicht. So schaffen wir gewissermaßen den Rahmen oder das Haus, in dem sich der Glaube ereignen kann.
Im vierten Satz wird der Neue Bund vergegenwärtigt
Christsein wird auch konkret und erkennbar
in der Beteiligung am Leben der Gemeinde vor Ort.
Ich will meine Verwurzelung im Gottesdienst – in Wort und Sakrament –
wahrnehmen und mich für den Dienst in der Gemeinde bereithalten.
Das entscheidende Wort dieses Satzes lautet: “Verwurzelung”. Um die geht es tatsächlich, also um die Frage, wo habe ich meine Wurzeln? Die oben schon angesprochene Säkularisierung führt - auf der einen Seite - zur Freiheit und Emanzipation von religiösen und sonstigen bislang unhinterfragten Autoritäten. Sie löst zugleich die schweren Identitätskrisen in den westlichen Gesellschaften aus, die sich als eine der wichtigsten Ursachen der zunehmend um sich greifenden rechtspopulistischen und rechtsextremen Phänomene erweisen. (Die Parallelen zu der Zeit der Berneuchener Konferenzen in den 1920ger- und 1930ger-Jahren sind mit Händen zu greifen!) Die oben beschriebene institutionalisierte Dauerreflexion in der Evangelischen Kirche hat sich nicht als geeignete Antwort darauf erwiesen. Auf die Frage, wohin gehöre ich, wo habe ich meine Wurzeln, wo bin ich zu Hause, worauf kann ich mich verlassen, was kann ich selbst beitragen, wofür kann ich Verantwortung übernehmen, Fragen, die die Rechtspopulisten sehr erfolgreich aufgreifen, haben wir als Kirche derzeit keine befriedigende Antwort. Verwurzelung findet auch im regulären Sonntagsgottesdienst weitgehend nicht statt, selbst ich gehe kaum noch sonntags in die Kirche (es sei denn, ich stehe selbst auf der Kanzel und am Altar), weil ich an anderen Stellen Wurzeln geschlagen habe, nicht nur in der Michaelsbruderschaft.
Der vierte Satz der Regel setzt die parochiale Ordnung voraus und stellt sie nicht in Frage. Die Berneuchener wollten keine eigenen Gemeinden gründen, auch keine landeskirchlichen Gemeinschaften oder ecclesiolae in ecclesia, sie wollten vielmehr die vorhandenen Gemeinden und auch den vorhandenen Gottesdienst stärken. Auf dem Weg in die postparochiale Kirche werden wir neu überlegen müssen, wie der vierte Satz gelebt werden kann.
Die Confessio Augustana hat die Verantwortung für den Gottesdienst, also für Wort und Sakrament, in die Hände des Predigtamtes gelegt, für das die ordentliche Berufung, also die Ordination, Voraussetzung ist. Die Barmer Erklärung erwähnt das Predigtamt nicht, was ein Grund dafür ist, dass Stählin sie abgelehnt hat. Für die Rheinische Kirche, die sich vielmehr an Barmen als an Augsburg orientiert, ist das ordinierte Amt eines unter vielen kirchlichen Professionen, weswegen sie stark in Richtung “gemeinsames Amt” denkt und plant, in dem mehrere kirchliche Professionen gemeinsam im Team die Verantwortung übernehmen. So oder so jedoch liegt der Gottesdienst in der Zuständigkeit von Hauptamtlichen.
Im Blick auf die angestrebte Vielfalt in der Gottesdienstlandschaft (die ich oben schon angesprochen habe), muss man sich zweierlei klar machen. Zum einen: Es gibt den einen Gottesdienst der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche, der sich durch die Jahrhunderte im europäischen, westkirchlichen Abendland entwickelt und herausgebildet hat, und den wir Messe nennen. Sie wird, ob sie nun so heißt oder nicht, in der römisch- und altkatholischen Kirche, in der anglikanisch-episkopalen Tradition und in den meisten lutherischen und unierten und auch vielen reformierten Kirchen mit jeweils konfessionellen oder regionalen Eigenheiten und Besonderheiten gefeiert wird. Die nicht am Reißbrett entworfene, sondern gewachsene Ordnung dieses Gottesdienstes hat ihre innere Logik und ist in sich stimmig und bewährt und zugleich flexibel und anpassungsfähig. Man muss das Rad wahrlich nicht jedes Mal neu erfinden.
Und das andere ist: Die Gemeindeglieder und Christinnen und Christen haben nie gelernt, Gottesdienst zu feiern, weil das in der Zuständigkeit des ordinierten und professionellen Personals liegt. Dafür habe ich ein gelungenes Gegenbeispiel: Ich begleite seit über zwei Jahrzehnten die Düsseldorfer Gemeinde der Presbyterian Church of Ghana. Diese Gemeinde hat keinen eigenen Pfarrer, was presbyterianischer Tradition entspricht. Wenn sie mal eine Pfarrerin oder einen Pfarrer braucht, lädt sie welche von außen ein. Das heißt, die Gemeinde kümmert sich selbst um den Gottesdienst und verteilt die Aufgaben und Zuständigkeiten unter sich. Wenn ich dort bin, dann bin ich tatsächlich nur für Wort und Sakrament zuständig, um alles andere kümmern die sich selbst. Da herrscht eine ganz andere Gottesdienst-Atmosphäre, weil sie sich sehr viel stärker mit “ihrem” Gottesdienst identifizieren, als ich das von unseren Gottesdiensten gewohnt bin.
Wir wollen den Gottesdienst, die Messe, zum Wurzelboden machen. Man soll sich dort verwurzeln, sich mit ihr identifizieren, für sie gerne Verantwortung übernehmen und zu ihr beitragen wollen. Dafür werden wir sie ganz neu lernen und uns in sie einüben müssen. Der geeignete Ort dafür ist nicht mehr die Kirche, sondern die Tischgemeinschaft zu Hause. Wir denken an den Seder-Abend zum Pessachfest. Der wichtigste Gottesdienst des jüdischen Jahres findet nicht in der Synagoge statt, sondern zu Hause. Wer daran teilnimmt, erlebt den Auszug aus Ägypten noch einmal nach, so, als wäre er selbst dabei. Das hilft ihm oder ihr wie kaum etwas sonst, sich mit dem eigenen jüdischen Glauben zu identifizieren. Im Rahmen eines Seder-Abends hat Jesus den neuen Bund gestiftet. Das Herzstück unseres Gottesdienstes ist, dass wir diesen Moment so vergegenwärtigen, wie beim Seder-Abend der Auszug aus Ägypten. Die ersten Gottesdienste der Christenheit, aus denen unsere Messe erwachsen ist, fanden auch zu Hause in der Tischgemeinschaft statt. Man kann eine Messe in der Tischgemeinschaft feiern. Man muss es allerdings lernen und einüben. (Dass ist genau das, was wir in unserer Gemeinde in ca. 10 Veranstaltungen für nächstes Jahr planen, vielleicht sogar mit der Aussicht, die dann gesammelten Erfahrungen auf dem Düsseldorfer Kirchentag 2027 zum Thema machen zu können.
Der fünfte Satz lässt erkennen, dass die Regel des Geistlichen Lebens nicht perfekt ist und auch Schwächen hat (wie übrigens jeder zentrale kirchliche Text):
Verbindlich leben heißt, in allem Tun sich Gott verantwortlich zu wissen.
Ich will in Haus, Familie, Freundschaft und Beruf in dieser Verantwortung leben, Gottes Schöpfung achten und um Christi willen zum Dienst am Nächsten bereit sein.
Die Regel versäumt es - und dieses Versäumnis teilt sie mit der Barmer Erklärung - , von der Taufe zu sprechen. Die hätte an dieser Stelle unbedingt genannt werden müssen. So zentral in der römischen Kirche die Priesterweihe ist, so zentral ist die Taufe in der evangelischen. Die Rede vom Priestertum der Getauften hat aber nur dann Sinn, wenn die Getauften wissen, dass sie getauft sind und was die Taufe für sie bedeutet. Deswegen ist die Nichterwähnung der Taufe sowohl in der Barmer Erklärung als auch in der Regel ein echtes Versäumnis. Die Taufe sagt dem oder der Getauften, dass er oder sie unverbrüchlich mit Gott versöhnt ist und dass er oder sie berufen ist. Gott übernimmt für ihn oder sie die Verantwortung und er überträgt ihm oder ihr Verantwortung. Deswegen muss jede Einübung in den Glauben bei der Taufe beginnen, und jede Glaubenskatechese ist Taufkatechese. Ohne das Wissen um die Taufe und das eigene Getauftsein, wird man die Kirche nicht wirklich verstehen. Zudem gibt es auch kein allgemeines Ritual der Tauferinnerung - wenn man das Abendmahl nicht als ein solches bezeichnen will, aber so wird es ja in der Regel nicht gefeiert oder die Tauferinnerung in der Osternacht an der Stelle sieht. Auch Konfirmation, Trauung und Ordination sind eigentllich Taufgedächtnisse, aber sie werden nicht immer mit diesem Bezug gefeiert.
Vor etlichen Jahren wurde, interessanterweise eher im reformierten Spektrum, das Ritual der Salbung entdeckt, und zwar als Gebet um Heilung, Walter Hollenweger oder Rainer Stuhlmann sind Leute, die sich da engagiert haben. Ich denke, dass das vielleicht kein Zufall ist, weil dieses Ritual möglicherweise die Leerstelle ausfüllt, die das fehlende allgemeine Ritual für eine Tauferinnerung hinterlässt. Wenn man es sich genau anschaut, wird man entdecken, dass das Ritual der Salbung sich wunderbar für die Tauferinnerung eignet. Das kann ich hier jetzt nicht entfalten, würde es aber gerne mal in unserer Bruderschaft zum Thema machen.
Der sechste Satz vergegenwärtigt den Leib Christi mit seinen Gliedern im Sinne von 1. Kor 12.
Persönlicher Glaube und christliches Leben brauchen die Gemeinschaft.
Ich will anerkennen, dass andere meinen Weg fürbittend und seelsorglich begleiten.
Die Gemeinschaft der Christen beruht nicht auf gegenseitiger Sympathie, sondern auf der gemeinsamen Berufung. Wir haben uns nicht ausgesucht. Wir kennen uns, sind einander vertraut, wissen gegenseitig, wie wir ticken, können uns gegenseitig einschätzen. Aber ich finde es entlastend, dass wir nicht abhängig davon sind, wie nett und sympathisch wir uns finden. Das ist nicht das, was uns trägt, sondern die gegenseitige Verabredung und Verpflichtung, diese Regel des Geistlichen Lebens bzw. die Bruderschaftsregel sowohl gemeinsam - auf den Konventen, beim Michaelsfest, bei den regionalen Treffen und bei den Helfergesprächen - zu verwirklichen. So wird der in seinen Gliedern existierende Leib Christi inszeniert, vergegenwärtigt und veranschaulicht.
Der Mensch ist nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass er ein Vernunftwesen ist, der von seinem Verstand Gebrauch macht und zur Kreativität fähig ist. Er auch dadurch gekennzeichnet, dass er ein übendes Wesen ist. Alles, was der Mensch kann, was er beherrscht, wozu er fähig ist, hat er eingübt. Der Mensch ist ein übendes Wesen. Die Fähigkeit, sich zu üben, einzuüben, dann auch auszuüben, ist so typisch für den Menschen, dass Peter Sloterdijk dafür einen Ausdruck erfunden hat, er nennt das “Anthropotechnik”, also die Technik, die den Menschen zum Menschen macht. Sloterdijk sagt, der Mensch muss sich entscheiden, ob er sich horizontaler Entspannung hingibt und sich mit der Menge treiben lässt oder unter “Vertikalspannung” steht und das Bedürfnis hat, über sich hinaus zu wachsen. Dieses Bedürfnis treibt in dahin, sich zu üben, in was auch immer. Übung befähigt ihn, über sich hinaus zu wachsen - wobei die Betonung auf “wachsen” liegt, denn die stetige, dauerhafte, geduldige und verlässliche Übung ruft ein Wachstum hervor. Indem der Mensch (sich) übt, wächst etwas. Am Anfang ist das noch sehr mühsam, dann stellt sich mehr und mehr eine gewisse Leichtigkeit ein, bis dann eine Art Flow einsetzt und die Dingen gewissermaßen von selber fließen. Man muss sich nur mal bei Peter Uriel Frank in die Tanzschule stellen und zugucken. Da gibt es Paare, die kriegen das gerade mal so hin, aber es wirkt mühsam und angestrengt. Das macht nicht unbedingt Spaß da zuzugucken. Aber da sind andere Paare, die kommen mindestens dreimal in der Woche zum üben und da springt der Funke über. Die strahlen was aus! Geübt sein, heißt Ausstrahlung haben und Resonanz bewirken. Da stehen wir wieder bei der Frage: Was strahlt unsere Kirche aus und was für Resonanzen bewirkt sie? Das ist eine Frage, die Kirchenleitungen nicht beantworten können, aber für uns ist das eine Aufgabe.
Um noch einmal auf den Anfang zurückzukommen. Was Dietrich Bonhoeffer reaktionär fand, könnte sich tatsächlich als echter Wachstums-Impuls und als Wegweiser erweisen. Das wollen wir zumindest nicht von vorneherein ausschließen.
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