Die Kirche hat keine Zukunft. Aber welche? (1/3)

Drei Bücher, die den weiteren Weg unserer Kirche reflektieren.

 

Es ist kein Wunder, dass derzeit etliche Kolleginnen und Kollegen im Pfarramt darüber nachdenken, wie die Zukunft unserer Kirche aussieht. Was kommt auf uns zu? Was verlieren und was gewinnen wir? Worin liegen die Gefahren, aber auch die Chancen des tiefgreifenden Wandels? Manche von ihnen haben ihre Gedanken zu Papier gebracht und daraus ein Buch gemacht. Wir schauen uns die in diesem Sinne in den letzten Jahren entstandenen Werke an und befragen Sie, welche Impulse und Anregungen von ihnen ausgehen könnten und ob sie uns auf diesem Weg in die ungewisse Zukunft ein Stück begleiten können.

 

2021 erschien das Buch von Markus Beile, Erneuern oder Untergehen. Evangelische Kirchen vor der Entscheidung (Gütersloher Verlagshaus, 384 Seiten). Er stellt seinen Überlegungen ein Motto von Teilhard der Chardin voran, mit dem sie sich gut zusammenfassen lassen: "Nach zwanzig Jahrhunderten haben sich so viele Anschauungen geändert, dass wir religiös in eine andere Haut schlüpfen müssen. Die Formeln haben sich verengt und verhärtet: Sie behindern uns und erregen uns nicht mehr. Um weiter zu leben, müssen wir uns häuten" (5 - die Seitenangaben beziehen sich auf die Ebook-Ausgabe). Beile stößt das an und will Mut dazu machen. Die Kirche steht vor einer "harten Entscheidung", und die lautet: Erneuern oder untergehen. "Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird es uns bald nicht mehr geben." (9). Er gibt sich als liberaler, "aufgeklärter, postmoderner" Theologe zu erkennen (10). Nach einem Überblick über die gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen, die mit den Stichworten Pluralisierung, Technisierung, Globalisierung, Ökonomisierung, verschärfte Konfliktlagen, Flexibilisierung, Verminderte Polarität, gesteigerte Mobilität, Individualisierung bezeichnet werden, beschreibt er die Rolle des Christentums in der heutigen Gesellschaft. "Das Christentum in Deutschland und der Schweiz verliert überall an Boden" - ein Prozess, der schon im 19. Jahrhundert begonnen hat (industrielle Gesellschaft, Übergang zur "Ich-Gesellschaft"). Die Gegenwart ist von der "Spätmoderne" geprägt. - dieser Begriff durchzieht das Buch wie ein roter Faden. "Die spätmoderne Gesellschaft ist pluralistisch verfasst." Es "kann für keine Religion, also auch nicht für das Christentum, einen exklusiven Wahrheitsanspruch geben. (42) Sie sind gezwungen, sich zu plausibilisieren. Religion ist dabei "als spezifische Form menschlicher Welt- und Selbstdeutung zu einem allgemeinkulturellen Phänomen" geworden (48).

 

Die Kirche reagiert darauf mit unterschiedlichen Strategien, in dem sie unter Anpassung an die knapper werdenden Ressourcen weitermacht wie bisher (32), sich unter Zuhilfenahme betriebswirtschaftlicher Marketinginstrumente besser vermarktet (32), das Angebot in Orientierung an die Sinus-Milieus diversifiziert (33), sich auf gefragte Angebote fokussiert (33) oder sich den Freikirchen angleicht (36). All diese Strategien haben gewisse Wahrheitsmomente, haben sich aber nicht als Lösung der grundsätzlichen Probleme erwiesen. Manches davon bot ein eher "beklemmendes Bild", wozu nach Beile auch das Lutherjahr 2017 gehört, weil das Heil der Kirche "vor allem in einer Rückwärtsbewegung" gesucht wird (39). Im Sinne der von der EKD-Synode beschlossenen "12 Leitsätze" besteht die Kirche vor allem in "formaler Veränderung" und im Rückbau von Strukturen. Das Thema "Digitalisierung" erscheint dabei als "geeignete Zauberformel", aber dies alles wirkt vielmehr so, als sei die Kirche "mit den fundamentalen Herausforderungen der heutigen Zeit heillos überfordert." (39) Man weißt nicht mehr genau, wofür sie steht und es herrscht große Unsicherheit, was die die Mitglieder eigentlich denn nun glauben. Große Schwierigkeiten, die religiösen Begriffe und Vorstellungen des Christentums aufzuschließen (43)- Ihre Weltsicht wird als "theoretisch" und  Ansammlung von von Lehren und Behauptungen wahrgenommen.  Sie hat "keine Überlebenschance, wenn es nicht gelingt, die Bedeutung religiöser Praxis für die christliche Weltsicht herauszustellen. (46).

 

Nach dieser Beschreibung des Ist-Zustandes der Kirche benennt Beile "Kennzeichen eines zukunftsfähigen Protestantismus" (ab 47). Dazu muss klar sein, dass sie kein Selbstzweck ist und für die Menschen da ist, und: "Kirche muss wieder religiös werden". In einer vom Gefühl der Leere, der Unruhe, der Verlorenheit, der Unsicherheit, der Erschöpfung, des Versagens bestimmten Welt, muss sie "Lebensweltorientierung" bieten (50) "In dem Maße, in dem die Kirche diese Situation wahrnimmt, zeigt sie seelsorgerliche Kompetenz… Als Hilfe für ein gelingendes Leben hätte die protestantische Kirche, so gesehen, auch in der heutigen Zeit durchaus Chancen" (56). Für sie ist als traditionsbezogener Kirche kennzeichnend, "dass dieses Substanzielle, wie auch immer man es näher bestimmt, nicht als Bündel zeitloser Ideen und Formen vorliegt, sondern in geschichtlich gewachsenen Anschauungen und Ausdrucksgestalten zu suchen ist. In dem also, was wir 'Tradition' nennen" (59). "Identität ist ohne Traditionsbezug nicht zu haben" (60). Des weiteren zählt er die Pluralitätsfähigkeit zu den Überlebensbedingungen der Kirche, weil das "Verhältnis des Christentums zu anderen Weltsichten ungeklärt ist." (70) Für die Menschen der Spätmoderne gibt es "keine übergeordnete Instanz mehr", die ihnen die Wahl ihre Weltsicht vorschreibt, "sie selbst sind die Entscheidungsinstanz". Dabei genießt die "Evidenz naturwissenschaftlicher Methodik" noch immer "hohe Wertschätzung, weswegen "der naturwissenschaftlichen Sichtweise nicht" mehr mehr widersprochen werden darf (wobei sich die Frage stellt, ob die Orientierung an der Evidenz naturwissenschaftlicher Methodik auch heute noch maßgeblich ist und nicht schon durch allerhand ideologische, irrationale, verschwörungstheoretische und extremistische Mythen überlagert wird). Der christliche Absolutheitsanspruch, der auch in Karl Barths Entgegensetzung von Religion (als zum Scheitern verurteilter Versuch des Menschen, zu Gott zu gelangen) und Offenbarung (als Gottes Weg in Jesus Christus zum Menschen) zum Ausdruck kommt, kann so nicht durchgehalten werden. Die Wahrheitsfrage wird dadurch nicht verabschiedet, aber Wahrheit kann nicht als endgültiger Besitz verstanden werden, sondern als "Zielhorizont". Entscheidend ist, "das Phänomen "Religion" als spezifisch menschliche Dienstleistung zu verstehen."(85)

 

Des weiteren gilt es, die Kirche inhaltlich zu profilieren. Er unterstellt den Kolleginnen und Kollegen im Pfarramt, dass sie sich "zwar als moderne Menschen" verstehen, aber "wenn es um Glaubensfragen geht, ist die Versuchung jedoch groß, fleißig biblische Verse zu zitieren, in dogmatische Formeln, fromme Allgemeinplätze oder politisches Engagement zu flüchten und  so die Antwort schuldig zu bleiben, wie christlicher Glaube und modernes Leben zusammenpassen." Die Kirchenleitungen "beschäftigen sich in der Regel nicht mit inhaltlichen Fragen" und "auch die wissenschaftliche Theologie ist keine große Hilfe." Deswegen ist "die allgemeine Außenwirkung des Protestantismus… verheerend, und man weiß nicht so recht, wofür die Protestanten stehen. (111) Ein Problem  ist nach Beile die einseitige Festlegung der Kirche auf personale Gottesbilder, was er, begrifflich nicht ganz korrekt, "theistische Gottesvorstellung" nennt, die den Menschen, wie er meint, den Zugang zum biblischen Zentralbegriff eher versperrt als eröffnet.(117)

 

Unter den folgenden Überschriften "Reumütige Kirche", "Gemeinschaftliche Kirche", "Glaubwürdige Kirche", "Spirituelle Kirche", "Bildende Kirche", "Planmäßig sich entwickelnde Kirche", "Öffentliche Kirche" breitet Beile nun eine ganze Fülle von Ideen, Anregungen und Vorschlägen aus, die hier nicht im einzelnen dargestellt werden müssen. Was aber auffällt ist, dass sich in dieser Fülle relativ exakt die Buntheit und Vielfalt evangelischen Leben in Deutschland und der Schweiz widerspiegelt. Beile berichtet nichts, was nicht irgendwo in der Welt des Protestantismus so oder vergleichbar schon praktiziert wird. Deswegen stellt sich spätestens hier die Frage: Wenn es im Untertitel "Evangelische Kirchen vor der Entscheidung" heißt - um welche Entscheidung geht es eigentlich? Schon zu meinem Dienstbeginn in den 1980ger-Jahren war klar, dass die Dinge nicht so bleiben werden und war die Bereitschaft groß, sich auf Veränderung, Wandel und Erneuerung einzulassen. Ich kenne praktisch niemanden, der der Meinung ist, es könne und solle alles so bleiben, wie es ist. Dass dies allgemein die Haltung in der Kirche sei, setzt Beile aber stillschweigend voraus: "Derzeit sieht es nicht danach aus, als ob der Protestantismus die Zeichen der Zeit erkannt hätte und sich grundlegend erneuert". Das Problem aber ist nicht der Mangel an der Bereitschaft, sich zu erneuern. Die ist im reichen Maße vorhanden. Trotzdem befindet sich die Kirche in der kritischen Lagen, wie wir sie wahrnehmen.

 

Wohin sich die Kirche nach Beiles Meinung bewegen soll, macht er anhand der Geschichte von Christine deutlich, einer fiktive jungen Projektmanagerin. Sie ist nicht sehr religiös, gerät aber, weil sie sich das alte Münster der Stadt anschauen will, in einen Gottesdienst und erlebt dort Kirche von ihrer sympathischsten und freundlichen Seite. Am Ende sagt sie zu einem Pfarrer, den sie zufällig im Zug triff: "Wissen sie, (…) ich habe eigentlich mit Religion nichts am Hut. Aber das, was ich heute erlebt habe, hat mich doch ein wenig durcheinander gebracht. Vielleicht wäre das doch etwas für mich?". Die Kirche ist von einer großartigen Atmosphäre und echt netten Lette geprägt. Was aber nicht deutlich wird - und zwar nicht nur in dieser Erzählung am Schluss, sondern durchaus im gesamten Buch - ist, was eigentlich die Botschaft dieser Kirche ist, das Alleinstellungsmerkmal, dass sie unverwechselbar und unterscheidbar macht und was es den Menschen ermöglicht, sich mit ihr zu eindeutig zu identifizieren oder sich von ihr abzugrenzen. Könnte nicht eben das der Grund sein, warum viele keinen Zugang zu Kirche finden, weil sie eben nicht so recht wissen, wozu? Gerade Beile trägt erheblich dazu bei, die Kirche unkenntlich zu machen. Das apostolische Glaubensbekenntnis möchte er nicht mehr sprechen. "Es ist… keine gute Idee, ständig zu wiederholen, die in eine anderen Zeit ihre Bedeutung hatten - und heute vielen Menschen Schwierigkeiten bereiten." (125) Der "Charakter von Glaubensbekenntnissen" sollte sich "grundlegend ändern." Nach einer langen Zeit unumstößlicher Gewissheiten in Gestalt festgefügter Lehraussagen braucht es heute Glaubensbekenntnissen in Form von tastenden, suchenden, ahnenden Versuchen als Ausdruck des Bemühens, sprachfähig zu sein für den Glauben angesichts der heutigen Zeit." Ich kenne wirklich keine Kollegin und keinen Kollegen, der, wenn im kirchlichen Unterricht das Apostolikum zu Sprache kommt, seinen oder ihren Konfirmanden sagt: Das müsst ihr so glauben. Und keiner, der den Gottesdienst besucht, spricht das Glaubensbekenntnis als Ausdruck seines eigenen, persönlichen Glaubens. Vielmehr geht es darum, sich in die Reihe derer zu stellen, die mit diesen Worten durch die Jahrhunderte und von Generation zu Generation den christlichen Glauben ausgesprochen und weitergegeben haben, so dass der Glaube, dank ihrer Treue zur apostolischen Überlieferung bis auf uns gekommen ist. Man stelle sich vor, jede der Generationen hätte gesagt: Wir wollen unseren Glauben mit unseren Worten ausdrücken. Man stelle sich weiterhin für, wir würden in unseren Gottesdiensten nicht mehr das Apostolikum - ersatzweise das Nizänum oder oder andere im EG abgedruckten Formulierungen - sprechen, sondern nur noch eigene, selbst entworfene Formulierungen sprechen - es liegt auf der Hand, dass die Identifizierbarkeit als christliche, evangelische Gottesdienste damit endgültig verloren geht. Und wer soll dann das Recht haben, für die ganze Gottesdienstgemeinde Glaubensbekenntnisse zu verfassen? Die Konsequenz müsste doch sein, das Glaubensbekenntnis ganz aus dem Gottesdient zu entfernen und jeder macht das dann im stillen Kämmerlein. Für das Glaubensbekenntnis gilt, was für die ganze Liturgie gilt, dass sie gerade eben nicht spontaner Ausdruck unserer Subjektivität sind, sondern die Überlieferung repräsentieren (vergegenwärtigen), ohne die wir unseren Glauben nicht hätten. Dazu passt, wie mit lässiger Handbewegung Karl Barths Unterscheidung zwischen Religion und Offenbarung zu den Akten legt. Es mag sein, dass Karl Barth die Auseinandersetzung, zu der Friedrich Schleiermacher gewissermaßen herausgefordert hat, am Ende verloren hat und er ein wenig in Vergessenheit geraten ist, während Schleiermacher, besonders in der praktischen Theologie, sehr präsent ist. Aber der Hintergrund dieses Streites ist viel zu ernst; der Versuch des Menschen, zu Gott zu gelangen, ist viel zu aktuell und der Weg, den Gott über Israel und Jesus zum Menschen kommt, ist viel zu sehr in Vergessenheit geraten, als dass wir gut beraten wären, dieses zentrale Kapitel evangelischer Theologie beiseite legen zu können. Hier jedoch kann ich nicht darauf weiter einzugehen. Ähnlich verfährt er mit der Rede von Gott als Person, die  er "theistisches Prinzip" nennt, und die, anders als Beile das meint, geradezu konstitutiv für die biblische Rede von Gott ist; auch hierauf kann ich nicht weiter eingehen. Ebenfalls völlig daneben liegt Beile, wenn er die Rechtfertigungslehre, mit der die Kirche steht und fällt, mit einem Federstrich abtut, weil sie angeblich den spätmodernen Menschen nicht interessiert. Beile entsorgt damit mehrere zentrale Herzstücke des evangelischen Christentums, so dass man sich wirklich fragen muss, was er danach genau wiederbeleben möchte. Die kirchlichen Strukturen und ihre Zeitgemäßheit sowie auch die Ekklesiologie, also die Frage, was die Kirche zur Kirche macht, kommen in seinem Buch dagegen überhaupt nicht zur Sprache.

 

Die Stärke von Beiles Buch ist, dass er den Focus auf die Außenwirksamkeit der Kirche liegt. Dieser Gesichtspunkt hat in der Tat wohl bisher viel zu wenig einer Rolle gespielt oder aber er ist zu unprofessionell angegangen worden. An dieser Stelle sollte man die Kapitel im zweiten Teil des Buches, die ich hier nur andeutend erwähnt haben, durchaus lesen und bedenken, was dies für die jeweilige eigene Situation bedeutet.

 

Heinzpeter Hempelmann, Die Kirche ist tot - es lebe die Kirche

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