Übungen zum Lesen und wie man die Heilige Schrift erarbeitet

Die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade durch den Glauben, die Grundlage aller evangelischen Spiritualität, ist keine Idee, kein theologischer Lehrsatz und kein Dogma. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer langen, sich über viele Jahrhunderte erstreckenden Geschichte, die einst mit Abraham begann – und schließlich in einem völligen Desaster endete. Sie ist die Geschichte des Scheiterns der Menschheit, das angesichts der Herausforderungen der Gegenwart besonders sichtbar wird, denn es zeigt sich immer deutlicher, dass die Menschen dem Auftrag, die Schöpfung zu bebauen und bewahren (1. Mose 2,15) nicht mehr gewachsen sind. Sie ist aber auch die Geschichte des Scheiterns Gottes. Zwar sah es noch so aus, als würde nach einem endlosen Auf und Ab alles endlich gut werden und als würde das Reich Gottes endlich anbrechen, als sich bei Jesu Taufe sich der Himmel öffnete und Jesus sagen hörte, „dies ist mein Sohn, an ihm habe ich Wohlgefallen“. Doch dann, als Jesus in den leeren Himmel schrie, „mein Gott, warum hast du mich verlassen“, da war das Verhältnis zwischen Gott und seiner Schöpfung und den Menschen endgültig zerbrochen. Der Himmel war kalt, stumm und leer.

 

Aber dann geschieht schon sehr bald etwas völlig Unerwartetes. Statt dass die Freunde und Schüler – was sich zunächst andeutet – desillusioniert und bar jeder Hoffnung – in ihren früheren Alltag zurückziehen, sammeln sie sich in Jerusalem, veranlasst durch Begegnungen mit dem Gekreuzigten, der ihnen als Lebender erschien. Das Neue Testament deutet diese Begegnungen nur an, aber erkennbar wird, dass diese es waren, die sie schlagartig aus ihrem Scheitern und ihrem Zusammenbruch herausgeholt haben. Das war nicht das Ende, sondern erst der Anfang.

Um das Erlebte deuten und verstehen zu können, haben sie gründlich ihre Bibel – also unser Altes Testament – gelesen. Die dort erzählte und dokumentierte Geschichte war nicht, wie es zuerst aussah, zu Ende, sondern sollte sich fortsetzen. Gott hatte sich keineswegs zurückgezogen, sondern sich erneut und endgültig zu seiner Schöpfung und zu den Menschen bekannt. So haben wir heute die Möglichkeit, an eben dieser Geschichte, die durch die biblischen Schriften dokumentiert wird, selbst teilzuhaben.

 

Durch Lesen und Studium dieser Schriften tritt die von ihnen erzählte Geschichte in Erscheinung, nimmt erkennbar und identifizierbar Gestalt an und kann sich in der jeweiligen Gegenwart ereignen. Ohne die Heilige Schrift könnte sie gar nicht sichtbar werden und würde so im Nichts verschwinden. Lektüre und Studium der Bibel und die dadurch ausgelöste Kommunikation des Evangeliums sind also fundamental für die Ereigniswerdung der Kirche und die Einübung in sie. Der Gott, dem Abrahahm, Isaak, Jakob, Mose, Samuel, David, Jesaja, Jeremia, Hesekiel, Petrus, Paulus begegnet sind, ist derselbe, mit dem wir es zu tun haben.

 

Mit Lesen ist hier anderes gemeint als das, was wir tagtäglich tun. Von früh morgens bis spät abends sind wir genötigt, die verschiedensten Botschaften und Information, die uns auf Bildschirmen, Displays, Infotafeln, Zeitungen, Magazinen, Kopien… begegnen zu lesen und zu registrieren. Aber hier geht es um ein anderes Lesen, das konzentrierte und kontinuierliche “Auf-lesen” von Worten, Sätzen und Texten, von kürzeren, längeren und langen Texten, etwa eines Buches, einer Erzählung, einer Geschichte, eines Gedichtes, eines Aufsatzes oder Artikels. Lesen ist eine – man könnte sagen: für die Evangelische Kirche typische – Gestalt der Meditation. Sie bedarf genauso der ungestörten Umgebung, der Stille, der Zeit, was auch für das Schreiben gilt.

 

Die Bibel ist zunächst mündlich entstanden. Die Geschichten wurden zunächst - sehr zuverlässig - von Generation zu Generation weitererzählt und wohl, da es noch keine Medien gab, um sie festzuhalten, regelrecht auswendig gelernt, bis sie nach und nach schriftlich fixiert wurden. Diese Schriften wurden dann immer und immer wieder sehr gewissenhaft und genau abgeschrieben und auf diese Weise verbreitet. Sie sind deswegen durchweg sorgfältig formulierte und geprägte Texte. Sie sind nicht veränderbar und Aufgabe der “Textkritik” im Rahmen der Auslegung biblischer Texte ist es, möglichst nah an den ursprünglichen Wortlaut zu kommen, falls er unterschiedlich überliefert und abgeschrieben wurde. Während der ursprüngliche biblische Text grundsätzlich unveränderlich ist, müssen die Übersetzungen in die aktuell gesprochenen Sprachen stets und immer wieder neu zugleich auf Texttreue, Verstehbarkeit und sprachliche Angemessenheit überprüft werden.

Die Bibel besteht vor allem aus Erzählungen und Geschichtsdarstellungen in den unterschiedlichsten Formen, aus Rechtstexten, Gebeten und Liedern, prophetischen Botschaften, weisheitlichen Texten und – vor allem im Neuen Testament – Briefen. Sie wird sinnvoller Weise – auch wenn das möglich ist und zuweilen praktiziert wird – nicht an einem Stück von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Entscheidend ist, dass sie regelmäßig gelesen wird, am sinnvollsten täglich. Dafür gibt es verschiedene Ordnungen. Da ist zum einen die am Kirchenjahr orientierte “Ordnung Gottesdienstlicher Texte (und Lieder – OGTL), die in einem Zyklus von sechs Jahren die wichtigsten Abschnitte der Bibel (“Perikopen”, daher auch Perikopenordnng genannt) den jeweiligen Sonn- und Feiertagen und besonderen Anlässen für Lesung und Predigt zuordnet. Daran orientiert sich eine weitere Lese-Ordnung, die “Lesung für das Jahr der Kirche”, die für jeden Tag des Jahres zwei biblische Texte, beispielsweise als Morgen- und Abendlesung, vorschlägt. Eine andere Ordnung für die tägliche persönliche Bibel-Lese ist die fortlaufende Bibellesung, in der biblische Abschnitte und Bücher im Zusammenhang gelesen werden. Die bekanntesten und am meisten verwendeten sind vor allem zwei Modelle, zum einen der Bibelleseplan der Deutschen Bibelgesellschaft und die ökumenische Leseordnung der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen. Für die weitere Erarbeitung der Bibel steht eine Fülle an Literatur und Hilfsmittel bereit, die sich im Internet recherchieren lassen, wobei es deutliche Unterschiede im Blick auf deren Qualität und tatsächlichen Nutzen gibt. Sinnvoll ist, sich untereinander darüber auszutauschen, was hier hilfreich oder weniger nützlich ist.

 

Für alle, die sich einen Überblick über die ganze biblische Geschichte verschaffen möchte, empfehle ich zwei Werke, die beide leider vergriffen sind, aber wohl noch antiquarisch erhältlich und in Bibliotheken auszuleihen sind. Das erste Werk, bestehend aus zwei Bänden (für jeweils das Alte und Neue Testament stammt von einem Bruder der Gemeinschaft in Taizé, Frère John, “Mit Gott unterwegs” und “Ich bin der Weg” (Claudius-Verlag 1987/1990), außerdem ebenfalls zwei Bände für AT und NT: Gisela Kittel, “Der Namen über alle Namen” (I und II; Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, 1989/90). Beide Werke sind ganz hervorragende zusammenfassende Nacherzählungen der biblischen Geschichte und ich habe kein Verständnis dafür, dass sie derzeit nicht auf üblichem Weg bestellbar sind.

 

Die Bibel soll aber nicht nur allein in ungestörter Umgebung gelesen oder im öffentlichen Gottesdienst vorgetragen und ausgelegt werden. Sie ist vor allem dazu bestimmt, in Gemeinschaft gelesen zu werden. Über das gemeinsame Lesen eines biblischen Abschnitts kommt es zum Gespräch und zum gegenseitigen Erzählen der eigenen Geschichte. Im ersten Schritt wird erarbeitet, was in dem Abschnitt tatsächlich steht, was wir wissen können, was offenbleiben muss, wie er eingeordnet werden muss usw. Hier geht es um die Fakten und es ist wichtig, sich vor irgendwelchen Spekulationen zu hüten, für die die Anhaltspunkte nicht ausreichen und die in der Regel nicht weiterführen. In der Regel wird sich ein Mitglied der Gruppe, manchmal auch mehrere, inhaltlich vorbereiten. In einem zweiten Schritt hat jede(r) Anwesende die Möglichkeit zu sagen, was ihm persönlich der Text bedeutet und was ihn darin anspricht. Man unterscheidet hier gerne das “Damals-Wort” im ersten Schritt vom “Heute-Wort” im zweiten Schritt, oder man frag zuerst: Was steht in dem Text “an sich” und dann: “Was steht in dem Text “für mich”. So nimmt der besprochene Text im Laufe der Erarbeitung Gestalt an und wird lebendig, in im Laufe der Zeiten wird so nach und nach die ganze biblische Geschichte sichtbar, die sich aus vielen kleinen Geschichten zusammensetzt.

 

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