Wir kennen es ja nicht anders

Stellen wir uns einmal vor, der Deutsche Bundestag würde nicht von einer Bundestagspräsidentin geleitet. Vielmehr wäre der Bundeskanzler qua Amt auch Vorsitzender des Bundestages. Das Bundeskabinett würde die Rolle des Ältestenrates ausüben. Jede Sitzung würde etwa von einer Ministerin geleitet. Stellen wir uns weiter vor, die Ministerpräsidenten der Länder wären geborene Mitglieder des Bundestages. Aber auch die anderen Bundestagsabgeordneten wären nicht gewählt, sondern von Landtagen oder Stadträten delegiert. Und wie wäre das, wenn in einem Gemeinde- oder Stadtrat, etwa durch Tod oder Rücktritt, ein Platz frei würde? Dann würde dieser Gemeinde- oder Stadtrat per Mehrheitsbeschluss entscheiden, wer diesen Platz einnehmen darf. Ach, und viele Gemeinde- oder Stadträte wären gar nicht gewählt, und zwar dann nicht, wenn es maximal nur so viele Kandidierende gäbe, wie Sitze im Rat zu besetzen wären. Die wären dann nämlich automatisch drin. Außerdem wären die Ratssitzungen geheim. Die Öffentlichkeit wäre nicht zugelassen.

 

Wir wären uns wohl einig: Das wäre ein finsteres, undurchsichtiges, intransparentes und verfilztes Rätesystem, aber keine Demokratie. Exakt jene Verhältnisse herrschen aber in der Rheinischen Landeskirche. Der Präses ist zugleich Vorsitzender der Landessynode und die Kirchenleitung ihr Präsidium. Eine solche Synode kann kein Gegenüber, sondern nur eine Verlängerung der Kirchenleitung sein. Sie wird nicht, was eigentlich ihre Aufgabe wäre, die Kirchenleitung ernsthaft kontrollieren. Die Superintendentinnen und Superintendenten und die Mitglieder der Kirchenleitung sind von Amts wegen geborene Mitglieder der Synode. Auch die anderen Synodalen sind nicht gewählt, sondern von den Kreissynoden delegiert. Kein Wunder, dass viele Synodale ihre Sitze wie Erbhöfe seit Jahrzehnten innehaben. In den Kreissynoden herrschen entsprechende Verhältnisse. Und die Presbyterinnen und Presbyter sind vielfach auch nicht gewählt, weil oft zu wenig kandidiert haben, und dann gelten die Kandidierenden automatisch als gewählt, auch wenn niemand seine Stimme abgeben konnte. Und dieses so entstandenen Presbyterien sind nicht zur Öffentlichkeit verpflichtet. Alles kann hinter verschlossenen Türen abgewickelt werden. Man bleibt unter sich und kann sich sicher sein, nicht gestört zu werden. Und wird einmal ein Sitz im Presbyterium frei, wählt das Presbyterium selbst, wer nachrücken darf.

 

Es geht noch weiter: Pfarrerinnen und Pfarrer dürfen abgesetzt werden, ohne dass ihm oder ihr irgendeine Schuld nachgewiesen wird. Sie sind zwar verbeamtet und damit sozial (wenn auch nur vorläufig) abgesichert, aber ihr Ruf ist hin, weil, irgendeinen Grund wird es ja wohl geben, wenn er oder sie gehen musste. Und vor einem weltlichen Gericht gegen ihren Arbeitsgeber zu klagen ist mit Blick auf die kircheneigene Gerichtsbarkeit nicht zulässig. Ihnen wird ein selbstverständliches Grundrecht vorenthalten. Mir wäre 2008 das Schicksal einer Abberufung erspart geblieben, hätte ich damals diese Möglichkeit gehabt. Dann nämlich hätte der Kreissynodalvorstand es nicht gewagt, gegen mich vorzugehen. Dagegen hatte ich in die kircheneigene Gerichtsbarkeit kein Vertrauen; die Richterinnen und Richter saßen damals Tür an Tür mit den Kirchenjuristen im Landeskirchenamt und trafen sich in der Pause in der Cafeteria im Obergeschoss, dementsprechend war es um die Unabhängigkeit dieser eigentümlichen Gerichtsbarkeit bestellt. Unter diesem Vorzeichen habe ich auf eine Jahre anhaltende juristische Auseinandersetzung dankend verzichtet.

 

Vom "Dritten Weg" und der offensichtlichen Benachteiligung kirchlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fange ich hier erst gar nicht an. Man darf aber nicht vergessen, dass die Demokratie von den Müttern und Vätern der Kirchenordnung 1948 nicht gewollt war. Man sprach von einer "presbyterial-synodalen" Kirchenordnung, aber von "Demokratie" grenzte man sich ab, weil man keine Grundsätze aus dem politischen Leben übernehmen wollte. Man meinte, auf diese Weise Lehren aus der Zeit der Bekennenden Kirche ernst zu nehmen. Begründet wurde das mit einer diffusen Geschwisterlichkeits-Ideologie, die mehr verschleiert als sichtbar gemacht hat. An mehreren Stellen schreibt die Kirchenordnung den Gremien vor, nach Möglichkeit die Entscheidungen "einmütig" zu treffen. Streit ist verpönt, wir sind doch Schwestern und Brüder. Aber genau das sichert die Machtverhältnisse. Wer Streit anfängt und gegen die Einmütigkeit verstößt, setzt sich dem schiefen Blick aus und muss damit rechnen, gemieden zu werden. Dann sich doch lieber zurückziehen und die machen lassen, die eh schon immer machen. Die bleiben dann unter sich. Man kennt sich. Es sind ja immer die selben. Wie unhaltbar solche Zustände sind, wird nur deswegen nicht bewusst, weil wir es nicht anders kennen und es schon immer so war. Aber es sind genau diese Zustände, die zu der schon seit Jahrzehnten anhaltenden und sich zur Zeit verschärfenden Erosion des kirchlichen Lebens führen. Nur das wir das nicht wahrhaben wollen und stattdessen die Gründe dafür in irgendwelchen von uns nicht beeinflussbaren Säkularisierungsprozessen und dergleichen suchen.

 

In der katholischen Kirche gibt man immerhin zu, dass Hierarchie und nicht Demokratie das leitende Prinzip ist bzw. bisher war. In der rheinischen Kirche glaubt man ernsthaft, man sei demokratisch und basisorientiert, weil… wegen presbyterial und synodal und so. Der erste Schritt zur Besserung der Verhältnisse ist, dass man sich klar wird über die tatsächliche Verhältnisse. Nicht alles, was beklagt wird, kann von heute auf morgen abgestellt werden, was für Katholiken wie Protestanten gleichermaßen gilt. Aber wenigsten sollte man einer Vision entwickeln oder, wie die Katholiken, einen "synodalen Weg" beschreiten, wie weit und wohin der auch immer führen mag.

 

Viele Katholiken sind wütend über ihre Kirche und bleiben trotzdem katholisch. Auch ich bleibe rheinischer Protestant. Dazu bin ich zu sehr mit meiner Kirche, trotz allem, verbunden. Ich bin auch nicht hoffnungslos, ob die Dinge sich ändern. Es könnten sich überraschend neue Perspektiven auftun. Ein Beispiel: Ich bin sehr angetan von der Idee, aus dem gesamten evangelischen Düsseldorf - 85000 Mitglieder, 17 Gemeinden - eine einzige Großkirchengemeinde zu machen. Wahrscheinlich habe ich dabei ganz andere Motive als der Kirchenkreis, in dem diese Idee geboren wurde. Meine Überlegung: Eine solche Großkirchengemeinde Düsseldorf mit einer fünfstelligen Zahl an Mitglieder, kann nur funktionieren, wenn sich unter ihrem Dach viele an Größe, Ausrichtung, Prägung und Zielgruppe unterschiedliche Gemeinden bilden, die dann Personalgemeinden sind. Die wären dann selbstbestimmt und flexibel und müssten sich selbst verantworten. Damit wären wir wesentlich näher an dem, was mit "evangelisch" gemeint ist. Vielleicht haben wir ja doch noch die Chance, zu einer echten evangelischen Kirche zu werden. 

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