Zwölf Thesen, warum die evangelische Fusionitis in die Irre führt.

Nach evangelischem Verständnis ist eine Gemeinde ein Netzwerk aus Personen, die sich kennen, wahrnehmen, vertraut sind, verabreden und gemeinsam regelmäßig am vorgesehenen Ort ihre Gottesdienste feiern. Der Kern des evangelischen Kirchenverständnisses, das Priestertum der Getauften, bringt zum Ausdruck, dass alle Gemeindeglieder das Gemeindeleben gemäß ihren Begabungen, Fähigkeiten und Leidenschaften mitverantworten. Seit vielen Jahrzehnten jedoch gibt es schon den Trend, Ortsgemeinden zusammenzulegen und aus ihnen mehr oder weniger Kirchen-Regionen zu machen. Das verhindert das Wachstum echten evangelischen Gemeindelebens. Ein entscheidendes Kennzeichen des Protestantismus geht nach und nach verloren.

 

Hier beschreibe ich in zwölf Thesen, warum diese evangelische Fusionitis in die Irre führt: 

 

1.     Die Zusammenlegung von Gemeinden zu Groß-Gemeinden verursachen einen Zentralismus, der in die Entmündigung der Gemeindeglieder führt– von Freiheit und „Dienstbarkeit“ (so Luther, wir würden „Verantwortung“ sagen) eines Christenmenschen kann dann kaum noch Rede mehr sein. Unter normalen Umständen finden die Gemeindeleitung und -verwaltung, das Gebäude-, Personal- und Finanzwesens im Kreise von Personen statt, die sich kennen, die vertraut und füreinander einschätzbar und verlässlich sind. Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass die diesem Kreis Angehörigen Personen sich mit der Gemeinde identifizieren. Dies kann bei einer Zusammenlegung von Gemeinden Großgemeinden nicht mehr notwendig vorausgesetzt werden. Dadurch wird der Bedarf an Abstimmung, Reglementierung, Bereitstellung technischer Kommunikationsmittel, rechtlichen Festlegungen und Konfliktklärungen deutlich erhöht.

 

2.     Zentralisierung führt deswegen niemals zur Reduktion von Administration, sondern zwangsläufig stets dazu, dass der Verwaltungsapparat aufgebläht wird. Dadurch entsteht ein erhöhter Bedarf an administrativer Kompetenz und dementsprechend zur Notwendigkeit, dafür deutlich teureres Personal anzustellen. Zugleich steigt die Notwendigkeit von Gremien und Sitzungen, die neben den damit verbundenen Kosten und dem Zeitaufwand zu einem echten Stressfaktor für alle Beteiligten werden.

 

3.     Gleichzeitig kann von den Mitgliedern nicht erwartet werden, dass sie sich mit dem entstehenden für sie mehr oder weniger anonymen Apparat identifizieren. Identifikation Ist aber unbedingte Voraussetzung für Engagement und Leben in der Kirche. Eine Gemeinde, die durch Fusion zu einer Großgemeinde wird, entfernt sich von den Gemeindemitgliedern und ist für sie nicht mehr durchschaubar und kaum noch erreichbar.

 

4.     Die Hoffnung, dass die so von Verwaltung entlastete Gemeinde vor Ort dadurch mehr Ressourcen für den Gemeindeaufbau gewinnt, wird sich nicht erfüllen. Auch Gemeindeaufbau bedarf der Organisation und der personellen, räumlichen, rechtlichen und finanziellen Ressourcen. Diese können dann ohne die Zentrale nicht bereitgestellt werden. Tatsächlich werden die Gemeinden – oder was dann an diese Stelle treten wird – nicht ent-, sondern belastet.

 

5.     Wäre dem so, dass durch die Zentralisierung die Gemeinden von der Verwaltung für den Gemeindeaufbau freigestellt würden, dann stellte sich die Frage, ob die kirchlichen Strukturen nicht überhaupt entbehrlich wären. Dann wäre allerdings auch die Notwendigkeit einer Kirchenmitgliedschaft nicht einsichtig, es genügte ja die Mitgliedschaft in einer durch den Gemeindeaufbau entstehenden Gruppen jeweils vor Ort. Dann wäre ebenso nicht nachvollziehbar, warum der finanzielle Beitrag zum kirchlichen Leben in Gestalt der Kirchensteuer der Zentrale zu Gute kommen soll, wo dessen Verwendung kaum sinnvoll verfolgt werden kann. Dann wäre es viel sinnvoller, das Geld direkt in den Gemeindeaufbau vor Ort zu investieren und selber über die Verwendung der Mittel mitzuentscheiden. Die Plausibilität einer formellen Kirchenmitgliedschaft wäre kaum noch zu vermitteln.

 

6.    Dadurch wird ein selbstbewusstes Christentum in Sinne des Priestertums der Getauften verhindert und durch ein angepasstes Christentum im Sinne von Kundschaft und der Inanspruchnahme kirchlicher Dienstleistungen ersetzt. Weder ist diese Gestalt des Christentums heute noch attraktiv noch entspricht sie der Vorgabe des Neuen Testaments.

 

7.     Im Presbyterium einer solchen Großgemeinde würden Menschen zusammensitzen, die sich weitgehend in Alltag und Gemeindeleben nicht begegnen und wenig voneinander wissen. Sie werden kaum das Bewusstsein entwickeln, einer gemeinsamen Sache zu dienen. Das notwendige gegenseitige Vertrauen, das für die gemeinsame Arbeit, auch bei Kontroversen, nötig ist, kann so nicht entstehen.

 

8.    Statt sich, wie dies seit Jahren geschieht, sich immer wieder neu an den jeweils prognostizierten Rückgang der kirchensteuerbasierten Einnahmen anzupassen, wäre die Prüfung geboten, auf welche Weise die nötigen Finanzmittel generiert werden können. So  ist  beispielsweise zu vermuten, dass etliche Christinnen und Christen bereit wären, sich stärker finanziell zu engagieren, was sie aber nur vor Ort tun werden. Sie tun es nicht, wenn sich nicht zugleich die Möglichkeit haben, das Gemeindeleben vor Ort mitzuverantworten und mitbestimmen.

 

9.     Statt zu immer größeren Einheiten müssen die Gemeinden, genau entgegengesetzt, wieder zu überschaubaren Einheiten werden. Dezentralisierung, nicht Zentralisierung führt weiter. Eine Gemeinde besteht aus einem Netzwerk von Menschen, die in einer wie auch immer gearteten Beziehung zueinander stehen und die je am selben Ort ihre regelmäßigen Gottesdienste feiern und ihr Gemeindeleben mit allen Aspekten selber verantworten. Nur unter solchen Bedingungen werden Menschen bereit sein, entsprechend ihren Begabungen, Fähigkeiten, Leidenschaften ihr Herzblut in die Gemeinde zu investieren, Verantwortung für sie zu übernehmen, Heimat in ihr zu finden und Wurzeln zu schlagen.

 

10. Eine Gemeinde jedoch, die selbst für sich Verantwortung übernimmt, kann das nur, wenn sie für sich auch im vollen Umfang haftet. Eine Gemeinde kann scheitern, und für diesen Fall muss es Verfahren geben. Die Geschichte einer Gemeinde muss zu Ende gehen dürfen und die Mitglieder dieser Gemeinde können vor der Notwendigkeit stehen, sich einer anderen Gemeinde anzuschließen.

 

11. Ob eine Gemeinde sich mit einer oder mehreren anderen zusammenschließt oder ob sie sich selbst zu neuen Gemeinden aufteilt und inwieweit sie mit anderen kooperiert oder zu gemeinsamem Wirken eine Partnerschaft eingeht, entscheidet sie selbst und unabhängig. Die übergeordneten Kirchenleitungsebenen können beraten und vermitteln, aber sie dürfen in solche Entscheidungen, die von den Gemeinden selbst getroffen werden, nicht hineinreden.

 

12. Von zentraler Bedeutung sind Profil und Erkennbarkeit solcher Gemeinden als evangelische Kirche. Dazu tragen bei

1.     die Anrufung Gottes im Namen Jesu;

2.     die Verkündigung der Rechtfertigung allein aus Gnaden, allein aus Glauben;

3.     der Ruf in die Nachfolge Jesu und unter den Zuspruch und Anspruch des Evangeliums;

4.     die Erzählung der biblischen Geschichten in vielfältigen Gestalten;

5.     die Vergegenwärtigung des Neuen Bundes in Taufe und Abendmahl;

6.     die Segnung von Menschen in vielfältigen Formen;

7.     die verlässliche Präsenz, Offenheit und Zugänglichkeit der Gemeinde;

8.     die Achtsamkeit der Gemeindeglieder gegenüber den Menschen in ihrer Umgebung;

9.     die Bereitschaft, im Blick auf die Bewahrung der Schöpfung, Frieden und Gerechtigkeit Verantwortung zu übernehmen;

10. die verlässliche Übung von Gebet, Meditation, Bibelstudium und Schweigen, allein und in Gemeinschaft,

11.  die Bereitschaft, den Glauben miteinander zu teilen, sich gegenseitig wahrzunehmen und wahrnehmen zu lassen.

12. die Einführung in die Praxis des Glaubens durch entsprechende Bildungsangebote.

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