Sonntagsmeditation: Dass das Leben nicht verging, so viel Blut auch schreit

Röm 8,26-30 - 29. Mai 2022 (Exaudi), und Röm 8,1-2.10-11 - 5. Juni 2022  (Pfingstsonntag), Reihe IV
(Es empfiehlt sich, das ganze Kapitel Röm 8 zu lesen)

 

Mein Vater hatte sich schon in der Universität in Jena eingeschrieben. Er wollte nach dem Abitur Germanistik und Kunstgeschichte studieren. Aber soweit kam es nicht. Er bekam das Abitur überreicht, ohne eine einzige Arbeit oder Klausur zu schreiben und ohne eine Prüfung zu machen. Dann wurde er, mit 17 Jahren, zur Wehrmacht einberufen. Er zog in den Krieg und der Krieg in sein Leben. Am Ende dieser Hölle wunderte er sich, dass er noch da war. Und so studierte er nicht Germanistik und Kunstgeschichte in Jena, sondern evangelische Theologie an der neue geschaffenen kirchlichen Hochschule in Wuppertal. Gegen Ende seines Lebens schrieb er seine Lebenserinnerungen auf unter dem Titel: "Geh, du bist geführt."

 

Er geriet in den Krieg, ohne ihm etwas entgegen setzen zu können. Er war von Brutalität und Töten umgeben. Doch dann entdeckte er etwas Neues. Etwas, was er nicht planen oder anstreben konnte. Etwas, was nicht von ihm kam. Er blieb nicht nur an Leben. Es lohnte sich auch zu leben.

 

Dem jetzigen Krieg können wir nichts entgegen setzen. Gleich ob der Westen Waffen liefert oder ob wer versucht, Frieden ohne Waffen zu schaffen. Er gehört zu unserer Wirklichkeit, vielleicht bald zu unserem Leben. Es gibt viele Diskussionen darüber in der Kirche, in Akademien, in zahllosen Gesprächen oder im Facebook. Sie sind müßig. Wir haben etwas anderes im Blick.

 

Was haben wir denn für Aussichten? Unser je eigenes Leben wird im Altwerden münden, vielleicht in Krankheit, Demenz oder Depression, auf jedem Fall im Sterben. Unsere Kirchen, katholisch wie evangelisch, befinden sich in einem Zerfallsprozess, der wohl unumkehrbar ist. Unsere Welt ist ausgelaugt, erschöpft und verbraucht. Wir sind von Angst und Aussichtslosigkeits-Gefühlen geplagt.

Das waren auch die Menschen am Ausgang des Mittelalters. Auch ihre Welt war ausgelaugt, erschöpft und verbraucht. Doch dann, unerwartet und ungeplant, zeigte sich plötzlich eine neue Perspektive. Die Ängste lösten sich, Zuversicht wuchs wir ein zartes Pflänzchen, vorsichtig ließ sich Aufbruchstimmung spüren. Sie war von Freiheit, Gnade und Glauben gekennzeichnet. Das Zeitalter der Reformationen begann (und auch die "Gegen"-Reformation war eine, niemand wollte ins Mittelalter zurück). An die Stelle von Weltuntergangs-Ängsten machte sich die Hoffnung breit, der Mensch könnte sich weiterentwickeln und das Menschsein noch lernen.

 

Ungefähr fünf bis sechs Jahrzehnte nach Beginn unserer Zeitrechnung war das römische Reich auf der Höhe seine Macht. Und trotzdem hatte es seinen Zenith überschritten. Die Welt fühlte sich alt und verbraucht an und die Leute waren skeptisch und müde. Was sollte noch kommen? Der Keim des Zerfalls von römischem Reich und römischer Kultur war schon gelegt. Die sensiblen Geister der Zeit spürten es. Sie ahnten, dass auch das Imperium nicht ewig bestehen würde.

 

Doch plötzlich geschah etwas Unerwartetes und Unberechenbares, allerdings weitgehend im Verborgenen. Kaum jemand bekam es zunächst mit. In mehrere Stadtteilen der Millionenstadt Rom bildeten sich Gruppen, die sich regelmäßig in einer Wohnung zu gemeinsamen Mahlzeiten trafen. Sie erzählten sich die Geschichten von Jesus von Nazareth, sie beteten und sangen Psalmen aus dem Alten Testament, aber auch eigene Lieder. Ein einfaches Ritual, bei dem sie Brot und Wein miteinander teilten, war für sie das Zeichen, das Jesus mitten unter ihnen anwesend war. Sie teilten ihren Glauben, sie nahmen aneinander Anteil. Sie kannten sich, unterstützten sich, achteten aufeinander, konnten sich aufeinander verlassen.

 

Das Neue daran war etwas, was Menschen sich nicht selbst ausdenken konnten. Sie wären niemals von selbst auf das gekommen, was z. B. Petrus in der Apostelgeschichte (10,39ff.) schildert: "Den haben sie an das Holz gehängt und getötet. Den hat Gott auferweckt am dritten Tag und hat ihn erscheinen lassen, nicht dem ganzen Volk, sondern uns, den von Gott vorher erwählten Zeugen, die wir mit ihm gegessen und getrunken haben, nachdem er auferstanden war von den Toten. Und er hat uns geboten, dem Volk zu predigen und zu bezeugen, dass er von Gott bestimmt ist zum Richter der Lebenden und der Toten. Von diesem bezeugen alle Propheten, dass durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen."

 

Das bedeutete einen völlig neuen Zugang zu Gott, oder besser, einen Zugang für Gott zu den Menschen: Nicht über eine Lehre oder eine Weltanschauung ein Philosophie oder eine bestimmte Regel oder Ordnung, sondern über den Glauben! Und nicht nur Juden, sondern auch Nichtjuden entdeckten ihn. Für viele muss das eine echte Befreiung, ja Erlösung gewesen sein. Die Zeit tiefer religiöser Verunsicherung (wie sie auch unsere Zeit beherrscht!) war vorbei. Jetzt war alles so klar, so einfach, so einleuchtend. Immer mehr waren von dieser schlichten und doch in sich so stimmigen Religion fasziniert. Und es war nicht schwierig einen Zugang zu ihr zu finden. Und alle, die auf diese Weise glauben wollten, waren willkommen.

 

Jedoch blieben bei aller Klarheit auch noch Unklarheiten und Klärungsbedarf. Der ergab sich aus dem Miteinander von Glaubenden, die aus dem Judentum stammten und den nichtjüdischen Glaubenden. Während die jüdischen Gemeindeglieder sich wie selbstverständlich und wie bisher an die gewohnte Lebensordnung Israels hielten und das von niemanden in Frage gestellt wurde, wussten die "Heidenchristen" nicht, ob diese "Thora" auch für sie verbindlich war (denn es war ja der Gott Israels, dem sie begegneten). Es war eines der wichtigsten Bestrebungen des Apostels Paulus, dies allen klar zu machen, dass das nicht möglich war. Er hatte gewiss nichts dagegen, dass die "Judenchristen" weiter wie bisher an ihren Traditionen festhielten, aber er hatte sehr wohl etwas dagegen, dass die Christen, die nicht aus Israel stammten, sich daran halten sollten. Entweder die Thora - das "Gesetz", wie Paulus sie nannte - oder der Glaube. Er reiste durch die Welt, um den "Gehorsam des Glaubens um seines Namens willen" (Röm 1,5) aufzurichten.

 

In dem Brief an die römischen Gemeinden fasst er das Neue und das Eigenartige des Glaubens, der Nichtjuden und Juden miteinander verbindet zusammen. Seine Darstellung gipfelt in der Festsellung: Für die, "die in Christus Jesus sind", gibt es "keine Verdammnis" (Röm 8,1). Nie mehr und grundsätzlich nicht! Denn die Verdammnis hat Jesus auf sich genommen, als er sich nicht gegen seine Hinrichtung am Kreuz wehrte. Die Thora wird nun nicht (mehr) durch Menschen erfüllt, sondern durch den Geist Gottes selbst. Die Menschen brauchen sich darum nicht mehr zu kümmern. Gott selbst regelt das, durch seinen Geist, der durch den Glauben freigesetzt wird. Wer einmal die Freiheit gespürt hat, die dadurch ausgelöst wird, wird entdecken, dass er alle anderen Religionen und Weltanschauungen nicht mehr braucht. Er ist frei, nicht weil er sich selbst befreit hat, sondern befreit worden ist.

 

Heute haben manche Zweifel, ob das auch für sie gilt, dass es für sie keine Verdammnis mehr gibt. Es wird ja eine Bedingung genannt: Es gibt keine Verdammnis für die, "die in Christus Jesus sind". Wer ist wann "in Christus Jesus", und bleibt er da auch? Damals war das nicht die Frage, denn die Frage des Glaubens war eine des Endweder-Oders: Wer glaubt, war gezwungen, sich zu entscheiden. Denn wer glaubt, kann schlecht anderen Religionen oder Lehren folgen, was ja deutlich machen würde, das er nicht (wirklich) glaubt.

 

Heute ist das nicht mehr so eindeutig wie damals. Das Christentum ist nichts Neues mehr und unsere Kultur ist tief in ihm verankert. Die meisten sind irgendwie christlich geprägt, unabhängig davon, ob sie sich als Christen bezeichnen würden oder nicht. Aber das Christentum ist heute so diffus, dass es sich mit vielem anderen verbinden oder darin aufgehen kann. Deswegen ist die Frage, "ob ich in Christus" bin, durchaus verständlich - und trotzdem überflüssig. Ob ein Mensch in Christus ist oder nicht, das hängt nicht von ihm ab und darauf hat er keinen Einfluss. Jeder, der in Christus ist, ist es deswegen, weil Christus selbst ihn ihn sich hineingenommen hat (was im Ritual der Taufe sinnbildlich sichtbar wird). Darum brauche ich mich nicht zu kümmern - und eben dieses "Sich-nicht-darum-kümmern-müssen", das exakt ist Glauben.

 

Dennoch wissen alle, die das so von sich sagen können, dass sich immer wieder Zweifel breit machen, die den Glauben in Frage stellen. Das weiß auch Paulus und er kommt auch drauf zu sprechen (Röm 8,26f.): "Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er tritt für die Heiligen ein, wie Gott es will." Unsere "Schwachheit", also unsere Zweifel, unser Nicht-Glauben-Können verhindert nicht, dass wir in Christus sind. Unsere Unfähigkeit zu beten verhindert nicht einmal das Gebet, denn wir beten ununterbrochen und nach den Worten des Paulus ist es der Geist selbst, der in uns "mit unaussprechlichem Seufzen" betet; "unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir" (Augustinus). Ob wir also glauben - auch dann, wenn wir davon nichts merken - oder nicht, hängt nicht von uns selbst ab, sondern vom Geist Gottes, der in uns wirkt, auch dann wirkt, wenn wir davon zumindest zunächst noch nichts wahrnehmen: "Ist Gott für uns, wer kann gegen uns sein... Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen... Wer will uns scheiden von der Liebe Christi...". Nichts kann "uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn". (Röm 8,37f.)

 

Auch wenn mein Vater es nicht studiert hat, war mein Vater ein exzellenter Kenner der Kunstgeschichte und ein Liebhaber deutscher Lyrik. Aber - es hätte ihn nicht satt gemacht, wenn er dort seinen Lebensmittelpunkt gesucht hätte. Mitten in den Schrecken und der Brutalität des Zweiten Weltkrieges hat er gefunden, woran er sein Herz hängen konnte. Und er hat es getan, und durch viele Jahrzehnte hindurch den Gehorsam des Glaubens verkündet.

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