Sonntagsmeditation: Die Entdeckung des Menschen

Daniel 7,1-14 - 26. Mai 2022 (Christi Himmelfahrt), Reihe IV

 

Die "Zeitenwende", deren Zeitzeugen wir gerade sind, ist auch durch das Aufleben eines christlichen Faschismus gekennzeichnet. Bis dahin konnte man glauben, dass bis auf ein paar durchgeknallte Evangelikale in Amerika und wenige bornierte Ultramontane in der katholischen Welt das Christentum und der gesunde Menschenverstand durchaus Verbündete sein können. Aber soeben wird die Hoffnung zerstört, dass es sich von anderen Religionen durch konsequenten Verzicht auf Gewalt, Terror und Diktatur unterscheiden könnte.

 

Der christliche Faschismus kommt nun aus einer Ecke, in der wir ihn bis vor Kurzem niemals vermutet hätten. Wir wissen natürlich nicht, wie sehr der Klerus und die Gläubigen in der russisch-orthodoxen Kirche hinter ihrem Patriarchen Kyrill I. stehen. Aber dass dieser ganz alleine steht, ist nicht vorstellbar. Offenbar ist es ein Kennzeichen aller Religionen, dass sie dazu neigen, den Mächtigen zu dienen und sich davon für sich selbst Vorteile versprechen. Das ist beim Christentum nicht anders. Es liefert den Mächtigen die nötige Ideologie und erhält dafür von ihnen großzügige Privilegien.

 

Ein neues Phänomen ist das nicht. Im Protestantismus waren es die "Deutschen Christen" und Reichsbischof Ludwig Müller, an denen die Nazis allerdings schon bald nicht mehr sonderlich viel Freude hatten, weil sie zu bescheuert waren. Die katholische Kirche hatte im gleichen Zeitraum die Neigung, sich mit autoritären Regimen wie die in Portugal, Spanien, Kroatien, Österreich und der Slowakei im gegenseitigen Interesse zu verbünden, auch wenn dies meistens nicht vom Vatikan, sondern von den Nationalkirchen selbst ausging.

 

Auch das Christentum reicht also alleine als Schutz gegen die Aushöhlung von Freiheit und Demokratie nicht aus. Deren Existenz ist nur gewährleistet, wenn es eine gemeinsame, unbestrittene und allgemein anerkannte Basis gemeinsamer Werte gibt. Die Aufklärung hat ermöglicht, dass sich Anhänger aller Religionen, Weltanschauungen und Philosophien, also: Christen, Juden, Muslime, Buddhisten, Hinduisten, Humanisten, Skeptiker, Agnostiker, Materialisten, Atheisten und andere mehr dort tatsächlich finden, sie teilen und deren Wertschätzung und Bewahrung verabreden können. Oder anders gesagt: Welchem Weltbild wir folgen, das kann gerne weit auseinander gehen und sich drastisch unterscheiden. Aber im Blick auf das Bild vom Menschen können und müssen wir uns einig werden. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt allgemein und unbedingt und ausnahmslos für alle. Jeder, der diesen Satz in Zweifel zieht, setzt den Zusammenhalt in der demokratischen und von der Wahrung der Menschenwürde geprägten Gesellschaft der Gefahr aus.

 

Die Heilige Schrift dient nicht allein der Ehre Gottes. Ihr zentrales Thema ist die Würde des Menschen, vom ersten Kapitel an ("ein Bild, das uns gleich sei“). Im jüngsten Buch des Alten Testamentes, dem Danielbuch, wird in der "Menschensohn-Vision" erkennbar, dass Gott an der dem Menschen zuerkannten Würde festhält. Daniel sieht im Traum vier Weltreiche seiner Zeit aufsteigen, alle symbolisiert durch merkwürdige Tiere: Ein Löwe mit Flügeln, ein Bär mit drei Rippen im Maul, ein Panther mit vier Flügeln und vier Köpfen und zuletzt furchtbares und schreckliches Tier mit großen eisernen Zähnen und zehn Hörnern, aus denen eine weiteres Horn hervorbrach, "das redete große Dinge." Danach wird eine himmlische Gerichtszene entfaltet, "das Gericht wurde gehalten und die Bücher wurden aufgetan". In diesem Gericht werden diese durch Fabelwesen bezeichneten Weltreiche den Feuerflammen übergeben, und es war aus mit ihnen.

 

Und jetzt passiert das Entscheidende: "Es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende."

 

"Wie eines Menschen Sohn" lässt sich auch übersetzen "wie ein Mensch". Diesem Menschen nun werden "alle Völker und Leute aus so vielen Sprachen" anvertraut. Im Grunde ist es eben jene Macht, die dem Menschen schon zu Beginn übertragen wurde ("Macht euch die Erde untertan"): Der Mensch als das von Gott ermächtigte und beauftrage Wesen, das Gott über seine Schöpfung gesetzt hat und dem er Verantwortung für seine Schöpfung übertragen hat. Den schrecklichen Reichen jener fürchterlichen Tierwesen steht der Mensch gegenüber. Und der ist aus seine Stellung innerhalb der Schöpfung keineswegs entlassen. Es geht um den Menschen. Nicht um einige Menschen, sondern um den Menschen schlechthin, um alle Menschen.

 

"Der Mensch" aus der Vision des Danielbuches ist keine real existierende Person, sondern ein Bild. Eine Vision. Es ist offensichtlich, dass Jesus sich mit diesem Menschen identifiziert. Er sagt nie: Ich bin der Mensch(ensohn - vergleiche aber Johannes 19,5: "Seht den Menschen"). Er spricht von "dem Menschen" wie von einer dritten Person. Er sagt nie, dass er es selbst ist. Das wäre als anmaßend empfunden worden. Er spricht von ihm, der gekommen ist oder noch kommt, der ein Herr über den Sabbat ist, der sucht, was verloren ist, der verworfen wird und noch leiden wird, der kommen wird, um Gericht zu halten. Daran wird deutlich, dass er den Menschen nicht aus der Rolle zu entlassen gedenkt, der er ihm einst zugedacht hat. Was die Jünger bei ihm lernen - um es dann später selbst zu lehren - ist das Menschsein. Wen er in die Nachfolge, zum Glauben beruft, den beruft er, Mensch zu sein. Der Mensch in seiner Abhängigkeit und in seiner Vollmacht, der vertrauen (=glauben) soll, um Vertrauen - Glauben - zu wecken.

 

Das ist der Grund, warum wir Christen - ohne den Wahrheitsanspruch aufzugeben! - mit Menschen, die anderen Religionen, Philosophien und Weltanschauungen folgen, zusammenwirken können - unter der Bedingung, dass die Würde des Menschen gewahrt bleibt und wir ihr dienen. Unsere Verhältnis zur Demokratie ist ein anderes als das zu den Mächtigen. Denen können wir nur unter Verleugnung oder Verstellung der Wahrheit folgen. Das Zusammenwirken in einer Demokratie setzt aber unbedingte Treue zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit voraus. Darum ist die Demokratie die einzige Staatsform, in der sich die Kirche zu Hause fühlen darf.

 

Übrigens: Ich selbst engagiere mich nicht nur in der Kirche, sondern auch in der SPD - manchmal. Also in einer Partei, die sich vom Ursprung hier entschieden antiklerikal versteht. Und dennoch haben Leute in ihr nach dem zweiten Weltkrieg in ihr mitgewirkt, die sich dem Christentum verbunden fühlen - zum Beispiel Gustav Heinemann, Georg Leber, Erhard Eppler, Johannes Rau; in unserer Zeit und in unserer Region Karin Kortmann und Kerstin Griese. Zwar stöhnen manche laizistisch orientierten Genossinnen und Genossen über die vielen Frommen in der Partei, aber dennoch funktionert es - so lange sich alle auf dem Boden der Würde des Menschen wiederfinden. Die Kirchen bilden keine Sonderwelt ab, sondern sind ein voll integriertes und integrierendes Element unserer Demokratie und Gesellschaft.

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