Sonntagsmeditation: Alles, was ihr tut

Kolosser 3,12-17 - 15. Mai 2022 (Kantate), Reihe IV

 

Die Briefe des Paulus und die anderen neutestamentlichen Briefe sind deswegen so faszinierend, weil sie aus einer so völlig anderen Situation als der unseren stammen. Heute haben die Kirchen jegliche Ausstrahlung auf die Gesellschaft verloren. Über das Erzbistum Köln muss dazu nicht mehr viel gesagt werden. Und die evangelische Kirche stolpert erschöpft, mutlos und bar jeder Leidenschaft aus einer Sparrunde in die nächste. Und beide wundern sich schon nicht mehr, warum sie niemanden mehr beeindrucken oder anziehen.

 

Aber genau das war eine Eigenschaft der Kirche der ersten Jahrzehnte unserer Zeitrechnung. Die spannende Frage ist, wie dieser kleine, armselige Haufe es geschafft hat, die Gesellschaft des riesigen römischen Weltreiches nach und nach zu durchdringen und quasi zu unterwandern. Daraufhin muss man einmal die Briefe des Neuen Testamentes lesen, dann macht man ziemlich erstaunliche Entdeckungen.

 

Heute wirken die zahlreichen Ermahnungen dort zuweilen etwas altbacken, betulich und moralisierend, was ein Hinweis darauf ist, dass die Erfahrungen, die dahinter stehen, uns heute fehlen. Das erschwert uns das Verständnis dieser Texte und wir müssen uns die unterschiedlichen Situationen damals wie heute immer wieder vor Augen führen. Die Kirchenmitglieder werden heute eher (katholisch) wie Untertanen oder (evangelisch) wie Kunden angesehen werden. Unter solchen Voraussetzungen ist die Bedeutung vieler Passagen in den Briefen kaum angemessen zu erfassen und verstehbar zu machen. Erst dann, wenn man deren Hintergrund mit bedenkt, gewinnen sie an Schärfe

 

Damals waren die Gemeindeglieder weder Untertanen noch Kunden. Zu ihrem Selbstverständnis gehörte, dass jeder wusste: Es hängt von mir ab, ob die Gemeinde und die Kirche funktioniert. Es liegt in meiner Verantwortung und an meinem Beitrag, ob sie ihre Dynamik entfaltet oder nicht.

 

Dass solche Texte erst vor diesem Hintergrund ihr Profil entfalten und lebendig werden können, wird an dem Predigttext Kolosser 3,12-17, der für den Kantate-Sonntag (15. Mai 2022) vorgesehen ist, eindrucksvoll deutlich.

 

Der Brief ist an die Gemeinde in der kleinasiatischen Stadt Kolossä (und offensichtlich nicht nur an sie) adressiert. Sie stammt aus der Generation nach Paulus, der noch in guter Erinnerung ist und an denen man sich orientiert. (Dass der Brief so formuliert wurde, als sei er von Paulus selbst verfasst und, vor allem im letzten Kapitel, mit einigen Details und Personen angereichert wurde, ist der damals übliche Stil: Auf diese Weise unterstellte man sich der Autorität des Apostels). Noch immer waren die Gemeinden Hausgemeinden von überschaubarer Größe. Jeder kannte jeden und jeder hatte seinen Platz, seine Rolle, seine Funktion im Ganzen dieser personalen und auf die gegenseitigen Beziehungen gegründeten Gemeinde.  Unter diesen Voraussetzungen erschließen sich solche motivierenden Äußerungen wie diese: „So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; 13 und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!“ Genau dies macht die Eigenart diese Gemeinden aus und bildet den Unterschied zur heutigen Situation. Im Blick auf diese kleinsten Hausgemeinden erscheinen solche Ermutigungen wirklich als angebracht.  Aber heute sind die Kirchen heute durch ihren öffentlichen Charakter bestimmt. Gottesdienste z. B. sind öffentliche Ereignisse, an denen jeder teilnehmen konnte. Darum erschließt sich ihr Sinn wesentlich schwerer.

 

Heute ist es äußerst mühsam, über solche Ermahnungen zu predigen, weil sie etwas gelangweilt bevormundend klingen und die Prediger sich schnell dazu verleitet fühlen, diesen etwas besserwisserischen Ton aufzunehmen und selber zu moralisieren anzufangen. Damit ist keinem Predigthörer geholfen. Sie können natürlich anfangen, die Ratschläge zu beherzigen, aber das wird kaum auf das Gemeindeleben Auswirkungen haben. Es ist also mehr oder weniger gleichgültig, wie ernst oder auch nicht die Predigt hörenden Gemeindeglieder das umsetzen. Und genau das löst das Gefühl aus, der Predigttext hat mit mir eigentlich gar nichts zu tun und erzählt mir auch nichts Neues.

 

Zum Unterschied zu heutigen Situation wussten die ersten Empfänger dieses Briefes sehr genau, wie sehr Wohl und Gedeihen ihrer Gemeinde und der ganzen Kirche davon abhingen, dass die dort ausgesprochenen Ermahnungen tatsächlich umgesetzt wurden. Die Gemeindeglieder von heute tragen für das Gelingen des Gemeindelebens keine Verantwortung, dafür gibt es die kompetenten Hauptamtlichen. Damals wußtes jeder, der an der Hausgemeinde beteiligt war, wie sehr es (auch) von ihm abhängt, dass die Gemeinde funktioniert, wie viel also daran lag, dass alle, jeder, „herzliches Verlangen, Freundlichkeit“ etc. anzieht. Das waren nicht nur frömmelnde, gute Rat-„Schläge“ – das war existenziell. Das gegenseitige Verhalten, der gegenseitige Umgang in einer Gemeinde miteinander machte mehr als andere die Eigenart und Qualität der Gemeinde, so auch ihr Gedeihen oder Nichtgedeihen aus. Davon hing es tatsächlich ab, ob die Gemeinde tatsächlich Salz der Erde und Licht der Welt war. Im Kern ging es darum, ob die Gemeindeglieder sich gegenseitig als Menschen wahr- und ernst nahmen, achtsam und barmherzig miteinander umgingen.

Und genau das war es, was den Gemeinden dieser ersten Jahrzehnte eine beeindruckende Ausstrahlung und Anziehungskraft verlieh. Wer, von außen kommend, bemerkte, wie verantwortlich und einfühlsam die Menschen in der Gemeinde umgingen, musste sich gerade davon angezogen vielen. Da herrschte eine Atmosphäre, eine Stimmung, die man so im öffentlichen Leben kaum antraf. Das war etwas Neues und für viele hatte das was Erlösendes und Befreiendes. Die Menschen, die mit den Gemeinden in Berührung kamen, ahnten, dass auch sie selbst dort Heimat finden könnten.

 

Der Abschnitt lässt auch deutlich werden, dass es hier zum einen um den gegenseitigen Umgang miteinander umgeht, dass der aber zum anderen in der gottesdienstlichen Gemeinschaft wurzelt und ohne sie auch keinen Halt hat: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“ Die Gemeinde ist ein Netzwerk persönlicher Beziehung, aber dieses braucht die Abstützung durch die immer wiederkehrende gottedienstliche Gemeinschaft, in der die Gottesbeziehung in Erscheinung tritt. Die Beziehungen untereinander und die Gottesbeziehung bilden eine Einheit.

 

Das macht die Ausstrahlung der Kirche aus und lässt Gott inmitten des gesellschaftlichen Leben anschaulich und erfahrbar werden: „Alles, was ihr tut… das tut alles im Namen des Herrn Jesus.“ Die Schwierigkeiten, diesen Abschnitt aus dem Kolosserbrief unter heutigen Bedingungen zu lesen, bestehen darin, dass er den Unterschied zwischen der heutigen und der Ursprungssituation der Kirche freilegt. 

 

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