EKiR.info

Der erste Eindruck ist wichtig. Wenn ich ein gedrucktes Medium in die Hand nehme, entscheidet die erste Assoziation, das Gefühl, dass sich unmittelbar einstellt, der Reflex, der dabei ausgelöst wird, ob ich es wirklich in die Hand nehme und drin blättere oder gar drin lese. Ob mich das etwas angeht oder im Meer der alltäglichen Banalitäten verschwindet.

 

Das EKiR.info flattert bei uns monatlich - dieses Mal die Aprilausgabe 2022 - gleich zweimal ins Haus, einmal für meine Frau, weil sie Presbyterin ist und auch noch eins für mich, weil ich als Ruhestandspfarrer immer noch als dem Kirchenpersonal zugehörig angesehen werde. EKiR.info ist ein monatlich auf 16 Seiten erscheinendes Insider-Magazin. Es richtet sich an Mitglieder von Presbyterien und an Mitarbeitende in der Kirche. Es ist kein Medium der Außendarstellung. Die Identifikation der Aktiven mit ihrer Kirche soll veranschaulicht und gestärkt werden.

 

Der erste Blick fällt auf ein Foto. Man sieht gut zehn Personen wandern, da wo es grün ist. Sie sind teilweise im Gespräch vertieft, so sehr, dass sie sich für die Umgebung nicht zu interessieren scheinen. "Unterwegs für Gerechtigkeit" ist da zu lesen, und der Hinweis, dass es sich hier um eine Pilgeraktion "Go für Gender Justice" handelt, eine Aktion im Vorfeld der Versammlung des ökumenischen Rates der Kirchen Ende August / Anfang September in Karlsruhe. Unwillkürlich fragt man sich, was eigentlich Pilgern und Gender Justice eigentlich miteinander zu tun haben. Man wird es gewiss erfahren, wenn man sich an solchen Aktionen beteiligt. Aber dazu müsste man schon vorher wissen, warum man das tun sollte. Und was das mit anderen zu tun hat, die nicht gerade direkt darin involviert sind.

 

Beim ersten Blick auf das Medium, nachdem ich es aus dem Briefkasten geholt habe, werde ich diese Frage nicht weiter verfolgen. Denn ich sehe, dass sich der darunter der Präses an die liebe Leserin und den lieben Leser zu Wort meldet. Und zwar mit wenig erfreulichen Informationen. 32900 Menschen sind im vergangenen Jahr aus der Kirche ausgetreten. Dem stehen 12400 Taufen und 2650 Kircheneintritte gegenüber.

 

Aber warum sagt er das? Es gehe ihm "um den Kontakt zu konkreten Menschen", und um die "geistliche Gemeinschaft in unseren Gemeinden", meint Latzel. Aber sein eigentliches Interesse ist ein anderes: "Deswegen ist mir wichtig, dass wir Menschen dazu einladen, in die Kirche einzutreten oder ihre Kinder taufen zu lassen. Und es ist mir wichtig, wenn sich Menschen dafür entscheiden, Mitglied zu bleiben" (Hervorhebung von mir). Weil es den "eigenen Glauben" stärkt und es "Glauben auf Dauer nicht ohne die Gemeinschaft mit anderen gibt".

 

Diese Gleichsetzung der "Gemeinschaft mit anderen" mit der Kirchenmitgliedschaft scheint eine gegenwärtig weit verbreitete, aber uneingestandene Angst zu verschleiern: Stell dir vor, unsere Kirche gäbe es gar nicht - und niemand würde sie vermissen. Man weiß nicht so recht: Will der Präses aufrütteln? Oder will er deutlich machen: Es läuft doch eigentlich alles ganz gut. "Es ist gut, wenn wir darauf schauen, wie wir in Kontakt zu den Menschen bleiben oder neu treten können." Will er damit sagen, dass es dafür endlich Zeit ist? Oder deutet er seine Dankbarkeit an, dass dies ja alles schon geschieht. Latzels Stichwort ist die "Mitgliederorientierung", die Lebensbegleitung und Seelsorge umfasst: "Das alles braucht Zeit. Aber es ist gut, wenn wir sie uns nehmen."

 

Ich erinnere mich an die Jahrzehnte meines eigenen Dienstes in der Kirche oder schaue darauf, wie meine Gemeindepfarrerin sich sehr wohl Zeit nimmt für die Menschen, viel Zeit und sehr verlässlich. Ist das alles schon genug? Grund, sich darüber zu freuen? Oder ist dies alles noch viel zu wenig und müsste es nicht noch viel mehr sein? "Wir sollten die Zahlen ernst nehmen," ist zu lesen, "ohne uns von ihnen bestimmen zu lassen". Wie geht das, etwas ernst nehmen, ohne sich davon bestimmen zu lassen? Die Lage ist sehr ernst, aber halb so wild. Sie ist wirklich bedrohlich, aber das ist doch nicht schlimm. Der Präses möchte uns aufschrecken und zugleich niemanden aus der Ruhe bringen.

 

Dass das so nicht funktioniert, liegt auf der Hand. Entweder ist die Lage ernst, dann wird sie uns bestimmen, oder sie ist es nicht und dann braucht sie das auch nicht. Wird unsere Kirche wirklich noch gebraucht? Oder sind alle Bemühungen, ihre Existenzberechtigung unter Beweis zu stellen, am Ende nur unnötiger, weil wirkungsloser Kräfteverschleiß?

 

Ob unsere Zeit unsere Kirche braucht, sei einstweilen dahingestellt. Aber was sie braucht, ist offensichtlich und eindeutig: Die Existenzgrundlage der Menschheit ist akut gefährdet. Eigentlich müssten wir uns mit aller Kraft um den Klimawandel kümmern, aber stattdessen nimmt uns ein völlig überflüssiger Krieg in Beschlag. Es wird - wieder einmal - sichtbar, wie sehr die Menschheit überfordert ist, erschöpft und ausgelaugt. Wenn die Menschheit sich nicht retten kann, wer rettet uns dann? Wo ist der, der sie und das alles geschaffen hat? Hat er noch ein Interesse an uns? Kann er uns noch da rausholen? Will er das überhaupt noch? Oder sagt er, jetzt ist irgendwann auch mal gut?

 

Für uns evangelische Christen lenken solche Fragen den Blick auf das Kreuz Christi. Denn das Kreuz ist Gottes Eingeständnis, dass die Menschheit komplett gescheitert ist. Die ganze Überforderung und Widersinnigkeit, das ganze Scheitern der Menschheit findet am Kreuz Christi seinen Ausdruck.

 

Aber entscheidend ist, dass dieses Eingeständnis nicht Gottes letztes Wort ist. Er gibt die Menschheit trotz allem nicht preis. Die Begegnung mit ihm, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, ist nicht nur eine Idee, nicht nur ein "Kerygma", sondern geht zurück auf echte Begegnungen. Sie haben wirklich stattgefunden. Wir verlassen uns darauf, dass Gott trotz aller Verbitterung und Enttäuschung über die Menschen Wort hält, und uns die Treue. Das ist der Kern unseres evangelischen Glaubens.

 

Wir, die evangelische Kirche, wir müssen uns entscheiden, ob wir jetzt wirklich alles dran setzen, diese Botschaft unters Volk zu bringen und die Menschen damit aufzurütteln und zu trösten, sie an ihre Verantwortung zu erinnern und an Gott, auf den sie sich verlassen können. Oder ob wir uns ein wenig mit Pilgern und Gendern die Zeit vertreiben. Da, wo es grün ist. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0