Eine Stimme verschwebenden Schweigens

Predigt über 1. Könige 19,1-13a im Rahmen des Wochenendes zum Frieden Gottes in Bergisch Gladbach am 20. März 2022 (Sonntag Oculi)

 

Viele Menschen tun sich schwer mit dem Alten Testament. Sie haben den Eindruck, das sei ein blutrünstiges Buch. Da wird an Völkern der Bann vollstreckt, d. h. sie werden vollständig ausgelöscht, da werden die Verlierer brutal umgebracht, und es wird überhaupt recht viel gemordet. Zugegeben, ganz falsch ist dieser Eindruck nicht. Es gibt Passagen, die sind für uns Heutige schwer zu schlucken.

 

Man muss sich aber vor Augen halten, dass das Alte Testament ein Buch ist, dass über viele Jahrhunderte gewachsen ist. An die tausend Jahre etwa dauert die Geschichte der hebräischen Bibel, von den ersten mündlich weitergegebenen Überlieferungen bis hin zur endgültigen Zusammenstellung der hebräischen Bibel, eine lange Zeit, eine Zeit, in der sich Israel entwickeln und weiter entwickeln konnte. Anfangs, in der Frühphase zum Beispiel, gab es noch keinen Frieden. Die Leute kannten so was nicht. Heute wissen wir, dass Frieden eine Grundbedingung für unsere Existenz ist. Russland wir den Krieg gegen die Ukraine aufgrund seiner Übermacht vielleicht gewinnen. Aber jedem ist klar, dass dann kein Friede herrscht, im Gegenteil. Es wird zum Aufstand kommen, zu neuen Kriegen oder es wird Friedhofsruhe herrschen, wie in Nordkorea. Aber das ist kein Frieden.

 

Aber, wie gesagt, es hat Zeiten gegeben, in der Frühzeit Israels, da kannten die Menschen keinen Frieden. Hätte man sie gefragt, was das ist, wären sie irritiert gewesen. Damals brauchten sie keinen Frieden, um leben und überleben zu können. Damals müssten sie einfach stärker sein als mögliche Gegner. In Sicherheit und ungestört leben konnten sie nur, wenn ihre Soldaten gesiegt haben. Hätten sie verloren, wäre ihre Vernichtung die Folge gewiesen. Siegen ist wichtig, nicht Frieden. Stärker sein ist wichtig, sonst sind sie geliefert.

 

Jedoch lernt der Prophet Elia in unserer Geschichte, dass ein Sieg in Wirklichkeit nichts bedeutet. Dass ein Sieg kein Fortschritt ist. Dass ein Sieg nichts ändert und nichts besser macht. Er lernt es durch einen grandiosen Sieg am Karmel über hunderte von Baals- und Aschera-Priestern. Trotz verkrampfter Anstrengungen, trotz Selbstkasteiungen, trotz verzweifelter Anrufungen ihrer Götter wird ihr Opfer nicht angenommen. Dagegen demonstriert Elia grandios und mit gerade lässiger Überlegenheit, wie sein Opfer von seinem Gott, dem Gott Israels angenommen wird. Er hat einen triumphalen Gottesbeweis vollbracht. Und dann passiert etwas, was unser Entsetzen auslöst, was der Erzähler von damals aber völlig in Ordnung findet. Er bringt sie, die er soeben als Lügenpriester entlarvt hat, alle um. Er vollzieht einen Blutrausch. Der Erzähler scheint zu denken, dass das die angemessene und gerechte Strafe ist. Er tadelt das nicht, er stellt das nicht in Frage, er berichtet einfach nur. Für ihn geht das so in Ordnung.

 

Aus seiner Sicht hätte Elia der Held des Tages sein müssen. Jetzt endlich hat alle Welt gesehen, wer der wahre Gott ist, in dessen Auftrag er handelt. Jetzt müsste er doch seinen Triumph richtig auskosten können. Jetzt wird ihm doch niemand mehr das Wasser reichen können. Und jetzt dürfte er doch wohl seinen Intimfeinden, dem König Ahab und der Königin Isebel das Maul gestopft haben.

Aber davon ist keine Rede. Er erfährt aus zuverlässiger Quelle, dass sie auf Rache sinnen. Dass sie auf sein Leben aus sind. Dass sie ihn zerstören wollen. Und da wird ihm schlagartig klar: Es hat sich nichts geändert. Statt sich in seinem Triumph zu sonnen gerät er in tiefste Depression. Es war alles umsonst. Es hat nichts gebracht. Es hat sich nichts geändert. Was soll das alles noch für einen Sinn haben? Einen Tag lang wandert er in die Wüste hinein, dann legt er sich unter einen Ginster und will nie mehr aufwachen. Er ist fertig mit der Welt. Er schläft tatsächlich ein und wird einige Stunden tief und fest und erholsam geschlafen haben. Und dann wird er sanft und behutsam geweckt. Ein Engel steht vor ihm. Er hat ihm ein Frühstück hingestellt, geröstetes Brot und Wasser. Steh auf und iss. Schon der Anblick und der Duft weckt einem die Lebengeister. Er ist sich satt und trinkt seinen Durst weg und zum ersten Mal verspürt er einen Anflug von Zuversicht und Gelassenheit. Aber noch ist es zu früh. Er braucht noch Zeit. Und die kriegt er auch. Er legt sich wieder hin und schläft, tief und lang. Bis ihn der Engel wieder weckt und ihm das Frühstück macht. Steh auf und iss. Du hast einen langen Weg vor. Und nun hat er sich erholt, er fühlt sich bei Kräften und stark genug, um sich auf den Weg zu machen. Den Weg durch die Wüste. Vierzig Tage lang. Eine Reise an den Ort, wo einst alles anfing. Wo der Gott Israels den Bund mit ihnen schloss, jenen Bund, als dessen Anwalt er sich versteht.

 

Da angekommen, bekommt er erst einmal die nötige Portion Seelsorge. Was machst du hier, Elia, wird er gefragt, nicht vorwurfsvoll, als hätte er hier nichts zu suchen, sondern ihn herausfordernd, mal endlich zur Sprache zu bringen, was ihm auf dem Herzen lastet. Für Elia ist es die Gelegenheit, sich den Frust von der Seele zu reden. Und es sprudelt aus ihm heraus: „Ich habe geeifert für den HERRN, den Gott Zebaoth; denn die Israeliten haben deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet und ich bin allein übriggeblieben, und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen.“ Was er erlebt, ist uns vertraut. Wir reden ständig von Gott. Die Sozialen Medien werden von Andachten, Predigten und Gebeten geflutet. Und bei allem Reden von und über und mit Gott merken wir kaum, dass er nicht mehr da ist. Es ist, als würden wir mit jemanden reden und wundern uns, dass er nicht antwortet und plötzlich merken wir: Das ist gar kein Mensch, das ist nur eine Schaufensterpuppe. Lasst uns doch mal innehalten und fragen, wo ist Gott eigentlich? Wir bemerken nicht einmal seine Abwesenheit, sosehr sind damit beschäftigt, die Leute mit irgendwelchen Gottesklugheiten vollzuquatschen. Bevor wir uns darüber beklagen, was wir alles für Probleme haben, lasst uns doch einfach mal fragen, wo ist Gott eigentlich? Lasst uns doch gewahr werden, dass wir mit Gott gar nicht mehr rechnen, sondern nur noch mit uns selbst. Elia merkt jetzt, so sehr er sich für seinen Gott ereifert, wieviel Energie er auch in die Reinheit seines Glaubens gesteckt hat, wieviel er für den Kampf gegen die falschen Götter investiert hat – aber tatsächlich kam Gott in seinem Leben nicht mehr vor. Wenn er jetzt völlig überfordert, völlig erschöpft, völlig desillusioniert ist, dann, weil er meinte, irgendetwas mit Gott zu regeln, aber in Wirklichkeit hat alles mit sich selbst abgemacht. Und nichts gemerkt. Nicht gemerkt, dass Gott sich längst aus dem Raum zurückgezogen und die Tür leise hinter sich zugezogen hat. Der führt ja Selbstgespräche, aber mit mir redet der ja nicht, und er merkt es nicht einmal.

 

Und wo ist Gott, wo ist er jetzt, nachdem wir gemerkt haben, er ist gar nicht mehr da? Jetzt ist Krieg, der dringend unter wahnsinnigem Zeitdruck stehende Klimawandel findet erst mal nicht statt, völlig überaltete Atomkraftwerke müssen erst mal Jahre weiterlaufen, der Abschied von der Kohle - vergiss es!, dann die neuen Flüchtlinge, die anderen Kriege und ein dritter Weltkrieg ist vielleicht gar nicht mehr soweit weg. Ist es nicht zynisch, irgendwelche Gottesweisheiten von sich zu geben, die zwar ganz nett sind, aber nicht wirklich irgendwas weder mit unserer Situation noch mit Gott zu tun haben. Der Krieg in der Ukraine hat das Abwesendsein Gottes offensichtlich gemacht.

Nachdem Elia seine Gotteseinsamkeit, sein Gottesschweigen eingestanden hat, fragt er sich, wie er wieder mit ihm in Berührung kommt. „Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den HERRN! Und siehe, der HERR ging vorüber. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. „Eine Stimme verschwebenden Schweigens“, so hat Martin Buber das übersetzt. Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel.  Was uns fehlt, ist das Schweigen. Deswegen hören wir Gott nicht. Gestern haben wir zwar Stunden lang hier in der Kirche gesessen und geschwiegen. Wissen Sie eigentlich, was da alles passiert, wenn man nur dasitzt und schweigt? Wenn um mich herum alles still wird, wird es in mir drinnen ziemlich laut. Angenehm ist das durchaus nicht, im Gegenteil, es tut weh, manchmal sehr weh, weil wir vor unsere Angst, vor unsere Einsamkeit, vor dem Druck nicht mehr weglaufen. Aber es ist nötig und es ist heilsam. Was uns heilt, muss nicht angenehm sein, muss nicht schön sein, aber es heilt uns.

 

Lassen Sie mich, auch wenn die Predigt damit ein klein wenig länger als üblich wird, noch eine Geschichte erzählen. In der Düsseldorfer Gemeinde, in der ich zu Hause bin, haben wir seit sieben Jahren einen Kreis, den wir manchmal Elia-Kreis nennen und der sich jede Woche trifft, Donnerstag abends. Dieser Kreis war in der Zeit entstanden, als wir erfuhren, unsere Kirche sollte abgerissen werden. Der Ort, wo wir Sonntag für Sonntag den Namen des Herrn anriefen, sein Wort hörten, den Bund erneuerten, uns unter seinen Segen stellten, wo Menschen zu ihrer Taufe, Konfirmation oder Trauung im Namen Gottes gesegnet wurden – er genoss die Ehrfurcht und den Respekt des Kirchenkreises nicht mehr und sollte den Bilanzen und den wirtschaftlichen Notwendigkeiten geopfert werden. Damals erinnerten wir uns an Elia und seine Geschichte. Wir führten ein Ritual ein, indem wir Brot und Wasser miteinander teilen und erinnern uns daran, wie der Engel zu Elia sprach: Steh auf und iss. Du hast einen weiten Weg vor dir. Und so haben wir uns auf den Weg gemacht. Damals meinten wir, das Ziel dieses Weges, der Berg Gottes, sei unsere Kirche selbst, für deren Erhalt wir kämpften. Aber die Kirche steht heute nicht mehr. Und wir sind immer noch unterwegs. Wir halten, von der Fasten- und Adventszeit abgesehen, den Elia-Segen immer noch und teilen Brot und Wasser. Jede Woche. Wir sind noch nicht angekommen. Aber wir sind gewiss, wir werden an den Berg Gottes kommen, jenen Ort, wo wir die Stimme verschwebenden Schweigens hören, wo wir mit Gott in Berührung kommen. Dahin sind wir noch unterwegs. Der Geschichten, die wir unterwegs erlebt haben und erleben werden, sind viele. Wir haben viel zu erzählen. Und ich zweifle nicht, dass wir am Ende sagen werden: Manchmal meinten wir, Gott wäre nicht da. Aber Gott war die ganze Zeit mit uns. Er ist den Weg mit uns gegangen. Er hat seinen Engel geschickt, der uns begleitet hat. Oft, ohne das wir das merkten. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Axel Vollberg (Sonntag, 20 März 2022 18:03)

    Der Text handelt vom Ankommen (-Wollen). Aber es ist davon die Rede, was auf dem Weg, auf dem man sich befindet, zurückzulassen bereit ist (um das Ziel zu erreichen).
    Wie wollt ihr ankommen, solange ihr noch festhalten, klammern wollt an (wohlvertrauten) Strukturen und an Orten, kurz, an dem Äußeren - und dabei das Innere dabei hintenanstellt?
    Wenn ihr ankommen wollt, müßt ihr eine Vorstellung davon haben, wo ihr hinwollt. Dazu müßt ihr euch darüber Rechenschaft ablegen, was ihr (an Vertrautem) aufzugeben bereit seid.
    Die Israeliten tauschten ihr Leben an den Fleischtöpfen Mizraims (diese bildeten ihre eigentliche "Knechtschaft") mit einem bedrohten Leben in der Wüste. Sie konnten das, allein weil sie darauf vertrauen durften, daß am Ende das Land der Verheißung auf das Volk wartete (und jedem/jeder Einzelnen von ihnen klar war, daß er/sie selbst dieses Land wohl niemals sehen würde).
    Wenn ihr weiterhin eure Kirche(n) in ihrer desolaten, Moden und Zeitgeist ergebenen Verfaßt- und Begrenztheit ins Visier nehmen wollt, wenn ihr nicht bereit seid, euch zu lösen von diesem (äußerlichen) Trugbild, werdet ihr niemals "ankommen" bzw. das Rauschen (ruach) vernehmen, das keine Körperlichkeit und keine Strukturen kennt.
    Denn das Rauschen des Schweigens ist innerlicher Natur, es ist an keine Orte und Strukturen gebunden, an keine Bedingungen geknüpft.
    Erst wenn ihr keinen (äußerlichen) Ort mehr sucht, an den ihr euch klammert, kommt ihr (innerlich) an, zu euch selbst, zu eurer Bestimmung und zu G'tt.