Die "Berneuchener Regel" als Antwort auf die Krise der Volkskirche (2/5): Östlich der Oder

Die Frage aber ist, was nun zu tun ist. Und hier nun werfe ich einen Blick auf die Kirchenkrise der 1920er-Jahre, in denen sich all das, wovon hier die Rede ist, ja schon abgezeichnet hat. Die damals empfundene Not der Kirche deckt sich in manchem, was wir heute erleben.

 

Von 1923 an traf sich jährlich auf zwei Rittergütern östlich der Oder eine Gruppe von Männern und (zwei) Frauen, die die Lage der Kirche sehr unbefriedigend fanden, bis 1927 in Berneuchen, nach dem Tod des Gutsherrn von Viebahn von 1928 bis 1930 in Pätzig. Dabei war wahrlich nicht alles schlecht an der Kirche. Als ihre Stärken werden genannt:

Große in die Zukunft weisenden Zusammenschlussbewegung Kirchenkörper, die Aktivität namentlich der angelsächsischen Kirchen, den neu erwachsenden Missionseifer, die evangelische Jugendarbeit, die verheißungsvolle Neuorientierung des theologischen Denkens, die neue Freiheit, die aus der Trennung zwischen Staat und Kirche heraus wächst, die neuen Gemeindebestrebungen, die Sammlung der evangelischen Elternschaft um die Förderung einer evangelischen Erziehung, die sozialen Kundgebungen der großen Kirchenkörper, die Volksmission, die neuen Ansätze praktischer Durchbildung von Pfarrern, die liturgische Bewegung und den neu sich regenden Eifer in der Pflege kirchlicher Kunst und nicht zuletzt den neu erwachsenden kirchlichen Sinn für die Massen.[1]

Demgegenüber steht, was die Kirche bedroht:

Ihre Verteidigungsstellung gegenüber der sieghaft angreifenden römischen Kirche, Austrittsbewegung und Gleichgültigkeit gerade religiös lebendiger Kreise, ihre von dem Kampf um das Bekenntnis her ständig drohende innere Spaltung, ihre politische Unsicherheit, der Mangel an wirklicher Gemeinde, das problematische Verhältnis zur Schule und Lehrerschaft, die Hilflosigkeit gegenüber den schweren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, die Berufsnot des Pfarrerstandes und die Sorge um seinen Nachwuchs die Unsicherheit ihrer gottesdienstlichen Formen und die Fragwürdigkeit der kirchlichen Amtshandlungen.[2]

Dass diese Region zum Schauplatz dieser Ereignisse wurde, ist keineswegs zufällig. Wir befinden uns in einer Welt, die auch in dieser Zeit noch ständisch-monarchisch geprägt war. Die Revolution von 1918 wurde nicht als Befreiung, sondern als Zusammenbruch erlebt; die Flucht des Kaisers ins niederländische Exil wurde als Verrat empfunden. Die Demokratie gehörte nicht zu den Werten, nach deren Verwirklichung man sich sehnte, auch wenn man sie nicht bekämpfte und sich als konservative Kraft in die Weimarer Demokratie integriert hätte, wenn sie denn funktionsfähig gewesen (oder noch geworden) wäre. Trotz mancher deutschnationalen Töne gab es keine Brücke zum aufkommenden Nationalsozialismus, der als akute Bedrohung der gewachsenen Ordnung empfunden wurde. Kennzeichnend war ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl. Den althergebrachten Privilegien entsprachen genau definierte Pflichten. Wo man innerhalb dieser vorgegebenen Ordnung seinen Platz zugewiesen bekam, da hatte man sich in Treue, Loyalität und Zuverlässigkeit zu bewähren. Die (evangelische) Kirche stand dieser gesellschaftlichen Ordnung nicht gegenüber, sondern war in sie integriert. Gutsherren und Adlige sorgten für den Unterhalt von Pfarrern und Kirchengebäuden und hatten dafür ein entscheidendes Wort etwa bei der Besetzung von Pfarrstellen mitzureden. Wer es sich leisten konnte, ging zur Taufe, Trauung oder Konfirmation nicht in die Kirche, sondern ließ den Pfarrer dafür auf das Gut kommen, auf dem es oft eine Hauskapelle gab. Oft anzutreffen war so etwas wie eine Hauskirche, in der Weise als der Gutsherr, zuweilen morgens und abends, eine Andacht hielt, in der er einen Bibeltext auslegte und in der Choräle gesungen wurden. Diese häusliche Übung war wohl prägender als die Institution Kirche selbst, die oft kritisch gesehen und als zu liberal, uniert und unverbindlich empfunden wurde. Ruth von Wedemeyer, Frau des Gutsbesitzers Hans von Wedemeyer, notierte in ihren Erinnerungen (In: Des Teufels Gasthaus, 2007) über die Kirche ihres Gutes in Pätzig:

„Für die Eltern war sie mit ihren fußbodenbraunen Bänken und ihrem schleppenden Gesang immer einen Ton hinter der Orgel her Sinnbild der äußersten Reformbedürftigkeit der preußischen evangelischen Kirche. Es herrschte im Osten noch die alte Patronatsordnung. Wenn einmal im Jahr am Karfreitag das Abendmahl gefeiert wurde, kniete zuerst der Patron vor dem Altar und dann die übrige, feierlich in Schwarz gekleidete Gemeinde. Zunächst zur Absolution von den Sünden, danach noch einmal zum Empfang des Sakraments…

Was hatte die unierte Kirche Preußens so reformbedürftig in den Augen unserer Eltern gemacht? Durch mehrfache Wellen von Glaubensflüchtlingen aus dem Westen, die im liberalen Preußen Aufnahme fanden, waren Staat und Kirche aneinander erstarkt. Reformierte und Lutheraner waren durch königlichen Befehl verbunden und regiert worden. So entstand eine königsabhängige liberale, die »unierte« Kirche.“[3]

Offensichtlich hat, was schon immer an der preußischen Kirche als unbefriedigend empfunden wurde, nach dem Umbruch die mit ihr Verbundenen noch einmal verstärkt verunsichert, so dass die Initiatoren dieses um die Erneuerung der Kirche bemühten Kreises sehr willkommen waren.

„Wilhelm Stählin aus Nürnberg und Karl Bernhard Ritter aus Marburg gruben mit einer Hand voll anderer Theologen nach der wahren und unverfälschten Kirche der Reformation… Konnte man besser, als es durch diese Bewegung geschah, Rückgriff auf Tradition und Aufbruch zu etwas Neuem verbinden? Beides entsprach unseren Eltern. Seelische Verwurzelung und kämpferische Kraft konnten sich zusammentun.“

Hier schien also fruchtbarer Boden für eine neu entstehende Bewegung zu sein, die auf der einen Seite durch ihren hoch innovativen Kern, auf der anderen Seite durch ein konservatives und die Tradition betonendes Erscheinungsbild gekennzeichnet war. Sie hätte gut und gerne auch bald wieder in Vergessenheit geraten können und wäre dann für die Gegenwart bedeutungslos geblieben, wenn es nicht Jahre später für einen Moment zu einer überraschenden und höchst spannungsvollen Begegnung mit einer ganz anderen kirchlichen Reform-Bewegung bekommen wäre, nämlich der Bekennenden Kirche. Und dies hat mit einer Frau zu tun, die von der Kirchengeschichte möglicherweise zu wenig gewürdigt wurde, Ruth von Kleist-Retzow.

 

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[1] Das Berneuchener Buch. Vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation, hg. v. d. Berneuchener Konferenz, Hamburg 1926, Seite 15f.

[2] Das Berneuchener Buch,  Seite 15

[3] Ruth von Wedemeyer, In des Teufels Gasthaus. Eine preußische Familie 1918-1945, 2015 (2007), Seite 251

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