Aufbruch zur faszinierenden Kirche (2)

Die Kirche, die sich im ersten Korintherbrief widerspiegelt, ist alles andere als faszinierend. Sie ist von Spaltungen, Konflikten, Machtkämpfen, Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit geprägt. Es ist ernüchternd, was da zum Vorschein kommt. Auch Paulus macht keine gute Figur. "Es ist mir bekannt geworden... Überhaupt hört man, dass... Ich höre... und zum Teil glaub ich es..." Es ist peinlich, wie Paulus auf Gerüchte eingeht und sie ernst nimmt. 

 

Man fragt sich, wie eine solche alles andere als faszinierende Chaostruppe überleben kann, ohne auseinanderzufallen. Was hält sie zusammen? Im Predigttext zum 3. Adventssonntag gibt Paulus einen wichtigen Hinweis. Er bezeichnet sich selbst als "Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse" (1.Kor 4,1).

 

Was Paulus mit den "Geheimnissen Gottes" meint, davon war im letzten Blog die Rede. Hier stellen wir uns der Aufgabe, die Geheimnisse Gottes mit Blick auf heute zu beschreiben, oder, anders formuliert, was die Geheimnisse der evangelischen Kirche sind. Wenn sie keine Geheimnisse hätte, worin läge dann ihre Existenzberechtigung? Die Geheimnisse der evangelischen Kirche, das ist das, was sie ausmacht. 

 

Es sind vier Geheimnisse, die sie zu dem macht, was sie ist. Nur dann, wenn wir uns diese vier Geheimnisse bewusst sind, sind wir wirklich evangelische Kirche. Fehlt eines dieser vier Geheimnisse, können wir die anderen auch vergessen und brauchen uns dann nicht mehr "evangelisch" zu nennen. Sind wir aber evangelisch, dann deswegen, weil es diese vier Geheimnisse der Evangelischen Kirche gibt: 

 

1. Wir haben eine Erzählung. Jeder Mensch braucht eine Erzählung. Sie gibt ihm Heimat und verleiht ihm seinen Sinn. Wozu ein Mensch da ist, worin der Sinn dessen liegt, dass es ihn gibt und dass er lebt, worin sein Auftrag, seine Hoffnung und seine Berufung besteht, dass kann man seiner Erzählung entnehmen. Einen Menschen, eine Familie, eine Gemeinschaft, ein Volk usw. lernen wir kennen, indem wir seine bzw. ihre Erzählung erfahren. Eine solche Erzählung denken wir uns nicht aus. Sie ist kein Produkt der Phantasie, sondern der Überlieferung. Wir können sie nicht erfinden, sondern nur weitererzählen, so, dass wir selbst darin vorkommen. Wenn wir sie erzählen, sind wir selbst Teil der Erzählung. Die Erzählung der evangelischen Kirche beginnt mit Abraham, Isaak und Jakob (ab 1. Mose 12), setzt sich über die Geschichte Moses und Davids, der Propheten, Jesu und seine Jünger und der jungen Kirche fort. Sie wurde von Generation zu Generation forterzählt, dadurch wandelte sie sich, was sie bis heute tut. Irgendwann fing man an, sie aufzuschreiben, die Nachgeborenen schrieben an ihr weiter, bis daraus ein Buch geworden ist, das Buch abgeschlossen wurde und von da an unveränderlich war. Die Erzählung setzte sich fort, war aber nun mit der Hilfe dieses Buches überprüfbar und identifizierbar. Dieses Buch zu lesen und unsere Geschichte weiter zu erzählen, das geht nun ineinander über und das eine macht das andere möglich. Die Kirche ist eine Lese- und Erzählgemeinschaft. Das ist es, was sie ausmacht, aber nicht nur.

 

2. Wir haben Rituale und Traditionen. Was wir erzählen, hat sich nicht nur in der Vergangenheit ereignet, sondern geschieht hier und heute, in der Gegenwart. Wir vergegenwärtigen die Erzählung, wir inszenieren sie. Dazu braucht es Rituale, Traditionen, Gewohnheiten und Gepflogenheiten. Sie sind in drei Sphären angesiedelt, im persönlichen Bereich, in der Gemeinschaft wie in der Öffentlichkeit. Spiritualität und Liturgie, Gesang und Verkündigung, Sakramente und Segen, Schweigen und Gebet, all das sind mit den Zeiten gewachsene Übungen, nicht auf bestimmte Gestalten fixiert, sondern für Weiterentwicklung und Wachstum offen. Während die katholische Kirche die ganze Fülle des westkirchlich-abendländischen Reichtums an Ritualen und Traditionen zu bewahren bemüht ist - wovon am Ende, zugebenermaßen, auch wir Evangelischen profitieren - sind wir bemüht, uns auf die wesentlichen Formen zu konzentrieren. Die biblische Begründbarkeit ist dafür ein wichtiges Kriterium. Der Ursprung all dessen ist wiederum in Israel zu suchen. Vieles haben wir übernommen, z. B. mit der Hebräischen Bibel, unserem Alten Testament, die Übung, Gott mit Hilfe der Psalmen anzurufen. Vieles haben wir uns anverwandelt, z. B. das Abendmahl, das aus dem Pessach erwachsen und bei uns gewissermaßen als Vergegenwärtigung der Gottes-Geschichte an dessen Stelle getreten ist. Die sorgfältige Pflege des persönlichen, gemeinschaftlichen und öffentlichen christlichen Lebens in solchen Gestalten ist fundamental für kirchliches Gedeihen.

 

3. Wir haben Orte, ausgesonderte, also "heilige" Orte, die der Begegnung mit Gott gewidmet sind. Als Jakob nach dem Traum mit der Himmelsleiter aufwachte, geht ihm durch den Sinn: "Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!" (1. Mose 28,16). An dieser Stelle entstand später Beth-El, ein wichtiges Heiligtum der Frühzeit Israels. Unsere Kirchen und Gottesdiensträume gewähren, wenn sie offen stehen, den Eintretenden eine Zone der Stille, einen Raum des Schweigens. Hier unterbricht den Stillesuchenden niemand, keiner will was von ihnen, hier können sie ungestört innehalten, schweigen, nach innen horchen, das Gespräch mit Gott suchen, lesen, meditieren. Hier ergeht das Wort Gottes an die Menschen, hier wird der Name Gottes angerufen, hier schließt Gott in der Taufe seinen Bund mit dem Täufling, hier wird er im Abendmahl bekräftigt, hier werden Menschen im Namen Gottes gesegnet. Wer solche Räume betritt, setzt seinen Alltag für diese Zeit aus. Nur dann, wenn hier nichts anderes geschieht, können sie ihre Funktion erfüllen. Auch dann wenn sie offen stehen und in ihnen nichts passiert, erfüllen sie ihre Funktion. Sie halten den Ort der Begegnung mit Gott offen und erinnert an die Anwesenheit Gottes unter den Menschen. Werden sie vermietet, vermarktet, um- oder entwidmet, tragen sie zur allgemeinen Gottesvergessenheit bei.

 

4. Wir haben ein Netzwerk persönlicher Kontakte, Begegnungen und Beziehungen, Menschen, die sich gegenseitig kennen, wahrnehmen und vertrauen, aneinander teilhaben und teilhaben lassen, ihren Glauben miteinander teilen, achtsam miteinander umgehen, Initiative ergreifen, Verantwortung übernehmen und sorgsam Gemeinschaft pflegen. Die Gemeinde ist weder ein Publikum, noch setzt sie sich aus Empfängern kirchlicher Dienstleistungen zusammen. Es sind unverwechselbare Einzelne, Individuen, Persönlichkeiten, die miteinander das Evangelium kommunizieren. Jeder trägt seinen Begabungen und seinem Vermögen entsprechend zum Geschehen und Gelingen des kirchlichen und es Gemeinde-Lebens bei. Jeder übernimmt an seinem Ort und zu seiner Zeit die Verantwortung dafür, so dass alle hier Heimat finden können - denn Heimat ist nicht (nur) ein Ort, Heimat sind Menschen, die man kennt und die ihnen kennen, die sich interessieren und die interessant sind, die vertrauen und denen andere vertrauen.

 

Nur wenn alle vier dieser Geheimnisse gewahrt werden, kann evangelisches Gemeindeleben, kann die evangelische Kirche wachsen und gedeihen. Fehlt eines diese Geheimnisse, gehen mit der Zeit auch die anderen verloren. Sind sie da und werden sie gepflegt, brauchen wir uns um Wachstum und Gedeihen keine Sorgen zu machen. 

 

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