Sonnntagsmeditation: Munteres Gottesgeplapper

Jesaja 63,15 - 64,3 (2. Advent, 5. Dezember 2021) (ab hier IV. Perikopenreihe)

 

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. 16 Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. 17 Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! 18 Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. 19 Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, (64) 1 wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, 2 wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! 3 Auch hat man es von alters her nicht vernommen. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.

 

Unsere Zeit ist nicht vom Atheismus geprägt. Die wenigsten Zeitgenossen werden sich Atheisten nennen. Diejenigen, die das tun – wie gesagt, es werden nicht sehr viele sein – sind solche, die ausgiebig und intensiv über die Gottesfrage nachgedacht haben und darüber zu solchen Erkenntnissen gekommen sind. Die meisten aber lassen solche Fragen gar nicht erst an sich heran und blenden sie aus – so, wie sie alles ausblenden, was sie nicht zur Bewältigung ihres aktuellen Alltags benötigen. Sowohl der Glaube an Gott als auch daran, dass es keinen gibt, setzen eine engagierte Reflexion voraus, woran die große Mehrheit nicht interessiert ist. Die echten Atheisten wie auch die Gläubigen machen jeweils mehr nicht als Minderheiten in ihren Gesellschaften aus.

 

Dieses Phänomen ist keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal unserer Zeit. Im Grunde war es schon immer so – auch in jenen Jahren nach dem Ende des Exils, nach der Rückkehr Israels (bzw. von Teilen des Volkes Israel) in die alte Heimat. Das war die Zeit, in der die letzten Kapitel des Jesajabuches (Kapitel 56 bis 66) niedergeschrieben wurden und in der auch das Jesajabuch als Ganzes zusammengestellt wurde – jenes Buch also, das in bewegenden Worten und unter dem Eindruck der Botschaft des ersten wie des zweiten Jesaja von der Begegnung zwischen Israel und seinem Gott in Gericht und Gnade erzählt.

 

In diesem Kapitel kommt die Enttäuschung über die Gottesvergessenheit und das Desinteresse an der Frage nach Gott zum Ausdruck, die offensichtlich im Volk der damaligen Zeit durchaus verbreitet waren. Die eigene Geschichte, die Erfahrungen früherer Generationen, das Herkommen – die Menschen hatten damals unter dem Druck der Alltagsprobleme weder Zeit noch Lust, sich auch damit noch zu beschäftigen. Und eben dies war die Not derer, die sich die Sensibilität für die Gotteserfahrungen in der Vergangenheit und der Gegenwart noch bewahrt haben. Sie wussten, dass das Leben ohne Gott nicht zu bewältigen war. Aber schauten sie auf den Himmel, schien dieser fest verschlossen zu sein. Sie antworteten darauf nicht mit der Gleichgültigkeit der meisten ihrer Zeitgenossen, sondern mit bitterer Klage. Sie kommt in den Versen unseres Sonntagstextes zum Ausdruck.

 

Auch wir wissen – und ich spreche jetzt nicht nur von uns Frommen, sondern von allen – dass wir Menschen allein das Schicksal unsere Welt und unseres Lebensraumes nicht mehr bewältigen können. Wir haben auf die Epidemie, auf die Bedrohung durch den Klimawandel und den Artenschwund, durch die Flüchtlingskrise und die immer deutlicher werdenden Bedrohungen des Weltfriedens keine Antwort. Es wird immer deutlicher, dass wir Menschen damit heillos überfordert sind. Darauf können wir reagieren, dass wir dies alles ausblenden – oder aber wir schließen uns dem bitteren Klagegebet aus Jesaja 63 und 64 an. Ach dass du den Himmel zerrissest ist und führest herab! (vgl. EG 7).

 

Das ist eine andere Frage als die Frage nach der Zukunft der Kirche. In welcher Weise sich die Kirche weiterentwickelt, ob sie sich entfalten kann oder schrumpfen wird oder ob sie sterben und neu auferstehen wird oder in welcher Weise sie sich sonst darbieten wird – das mag uns an anderer Stelle bewegen. Aber hier geht es nicht um die Wirklichkeit und die Zukunft der Kirche – sondern um die Wirklichkeit und die Zukunft des Glaubens. Mögen wir notfalls auf die Kirche verzichten können – auf den Glauben können wir nicht verzichten. Ich rede dabei gar nicht so sehr von dem christlichen Glauben, vielmehr von dem Glauben als anthropologischem Phänomen, als etwas, auf dass der Mensch, woran auch immer er glaubt, auf Gedeih und Verderb nicht verzichten kann. Wir, die wir dem christlichen Glauben verpflichtet sind, werden ihn gewiss nicht anderen aufdrängen. Aber wir werden unsere Zeitgenossen fragen und immer wieder neu fragen, woran sie glauben. Sie werden nicht daran vorbeikommen, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Wenn sie sie denn nicht unter dem Druck der Alltagssorgen ausblenden wollen.

 

Aber machen wir uns nichts vor. Den geschlossenen Himmel, das Schweigen Gottes, seine Abwesenheit auszuhalten und sie eben nicht auszublenden – das auszuhalten ist etwas, was leicht über die Kräfte eines Menschen geht. Vielleicht ist das der Grund, warum die sozialen Medien auf eine manchmal schon peinliche Art und Weise von einem munteren Gottesgeplapper der Kirchen geflutet werden. Offenbar stehen sie unter Zwang, ständig von und über Gott reden zu müssen – auch dann, wenn es zu ihm vielleicht gerade mal nichts zu sagen gibt. Aber manchmal ist es glaubwürdiger, auf das Schweigen Gottes mit dem eigenen Schweigen zu antworten (Jes 30,15).

 

Ein paar Hinweise in eigener Sache: 99% dessen, was ich hier schreibe, ist irgendwo geklaut. Da ich aber weder eine Doktorarbeit schreibe noch Politiker werden will, verzichte ich auf Quellenangaben (Meine Hand-Bibliothek sieht so aus). Wer genaueres wissen will, kann mich gerne fragen. Einige wird es stören, dass ich hier nicht gendere. Das vermeide ich hier, um die Lesbarkeit der Texte nicht zu beeinträchtigen. Die vorhergehenden Sonntagsmeditationen (ab dem 22. August 2021) finden sie hier

 

 

 

 

 

 

 

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