Biblische Lebenskunst in der Volkskirche (3/5): allein

Im Buch Jesaja findet sich in der Verkündigung des zweiten Jesaja dieses Wort am Anfang des 43. Kapitels:

 

"Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!" (Jesaja 43,1)

 

Diese Vergewisserung, dass der Bund Gottes mit Israel auch im babylonischen Exil in Kraft bleibt, ist an das ganze Volk gerichtet. Aber der Prophet sagt nicht: "Ihr", sondern betont: "Du". Jeder, der dieses Wort zu hören bekommt, muss das Gefühl haben, als würde er persönlich angesprochen, als sei er der Erlöste, beim Namen Gerufene, der Gott gehört.

 

Heute verbinden wir dieses Wort gerne mit der Taufe eines Kindes - um deutlich zu machen: Es ist persönlich gemeint. Gott hat seinen Bund unverbrüchlich im ihm geschlossen. Es ist erlöst, bei seinem Namen gerufen und gehört Gott.

 

Wenn ich meine Taufe annehme, hat das zur Folge, dass ich mich loslassen kann, weil Gott mich nicht loslässt. Vertrauen ist das selbe wie loslassen; ich ver-lasse mich, und zwar auf Gott. Das wirkt sich auf meinen Körper aus, der sich entspannt, also alle Anspannungen, Verspannungen oder gar Verkrampfungen nach und nach löst. Glaubende Menschen strahlen Gelassenheit aus, sie ruhen in sich selbst und wirken damit auch auf andere. Sie wecken Vertrauen.

 

Das geht meistens nicht automatisch. Aber man kann sich im Glauben, im Vertrauen, im Loslassen üben. Das braucht Zeit, Geduld und Ausdauer, doch mit der Zeit kann man darin wachsen, bis sich der Glaube irgendwann von selbst einstellt. Übung braucht er allerdings ein Leben lang.

 

Für diese Übung suchen wir uns einen Ort, an dem wir nicht gestört werden können. Kein Smartphone klingelt, Bildschirme bleiben ausgeschaltet, Zeitungen bleiben zugefaltet, und auch sonst kann uns nicht stören. Nicht immer ist ein solcher Ort zu finden. Aber für die Einübung und Übung des Glaubens ist er wichtig. Manchmal macht es ein Spaziergang möglich, zu einer solchen Ruhe zu finden.

 

Zur Ruhe kommen wir, indem wir auf unseren Atem achten. Er geht ganz von selbst und während ich auf ihn achte, wird er immer ruhiger. Die Atemzüge werden immer tiefer. Das wirkt sich entspannend auf den ganzen Körper aus. Sobald ich mit meinen Gedanken wieder woanders bin, werde ich wieder kurzatmiger und angespannter. So muss ich immer wieder zu mir und in die Gegenwart zurückkehren.

 

Die Taufe, also die Gewissheit, dass ich mich auf Gott verlassen kann, macht es mir möglich, um mich herum zu schauen, wo ich gerade bin und auch auf mich zu schauen, und zu sagen: Alles ist gut. Ich bin sicher. Mir kann nichts geschehen. Ich schaue mich selbst so an, wie ich wirklich bin, mit allem, was ich an mir nicht mag, was unheil und zerbrochen ist, womit ich gescheitert bin, was gefährdet ist, was mir Angst macht - und höre auf jenes Wort, dass meine Taufe deutet: Fürchte dich nicht ich habe dich erlöst.

 

Aber auch: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Mit der Taufe gelten mir auch Worte, die Jesus Menschen gesagt, die ihm begegnet sind: Dein Glaube hat dir geholfen. Dir geschehe, wie du geglaubt hast. Dir geschehe, wie du willst. Sei getrost, steh auf, er ruft dich. Wer gerufen wird, von dem wird eine Antwort erwartet, und wenn Gott mich bei meinem Namen gerufen hat, dann will er von mit eine Antwort bekommen. Ich bin nicht der erste Mensch, dem das so geht. Unzählige Menschen vor mir haben diesen Ruf vernommen, den wir in der evangelischen Kirche auch das "Wort Gottes" nennen. Sie sie sieht sich deswegen auch als die "Kirche des Wortes Gottes" an. Sie hat neben den Sakramenten, den Bundes-Zeichen, nur wenige Rituale für Gebet und Segen. Dagegen ist, weil Gott gesprochen hat, die Sprache von zentraler Bedeutung, das gesprochene, geschriebene und gesungene Wort. Daher hat in die Stille das Lesen und zuweilen, auch als Antwort auf das Gelesene, das Schreiben, seinen Ort.

 

Zwar pflegen wir den ganzen Tag irgendetwas zu lesen, die Zeitung, Informationen von Bildschirmen und Anzeigen, Wegweiser, Hinweisschilder, Warnhinweise, Gebrauchsanweisungen, Dokumente, Urkunden… wir nehmen fortlaufend Information auf, um sie sofort zu verarbeiten und darauf zu reagieren. Hier aber ist das Lesen eine Gestalt der Meditation. In aller Ruhe, mit Geduld und ohne Zeitdruck "lesen wir auf", was geschrieben vor uns liegt. Dass ungestörte, langsame, bedächtige und sich Zeit lassende Lesen ermöglicht Konzentration, lässt zur Ruhe kommen, es ordnet die Gedanken, lässt der Phantasie Raum, erlaubt den eigenen Gedanken, zu wandern, gibt Klarheit, schafft Distanz zum Alltag, gewährt einen Standpunkt, das eigene Leben gewissermaßen von außen anzuschauen. Das Lesen ist von großer Bedeutung für das Wachstum des Glauben. Wir lesen die Heilige Schrift, aber auch Erzählungen, Romane, Sachbücher, Lyrik. Lesen macht uns sprachfähig und fördert uns im mündlichen oder schriftlichen Erzählen unserer eigenen Geschichte. So wird der Raum geschaffen, indem die Lesenden miteinander ins Gespräch kommen, ins gegenseitige Erzählen, in den Austausch der Gedanken. Sie teilen so miteinander ihren Glauben. Es ist kein Wunder, dass die Reformation auch die Voraussetzungen für das spätere Zeitalter der Literatur geschaffen hat (und ebenso wie für das geschriebene Wort auch für die Musik, das gesungene Wort).

 

So wie der zweite Jesaja zwar das Volk anspricht, aber doch so, dass jeder, der die Botschaft hört, den Eindruck gewinnen muss, persönlich gemeint zu sein, genauso meint die Taufe, dass die Getauften einzeln und persönlich beim Namen gerufen werden. "Ich bin getauft" bedeutet: Ich bin von Gott bei meinem Namen gerufen. Wer mich beim Namen ruft, erwartet von mir, dass ich darauf antworte. Genau das ist mit dem Gebet gemeint; es handelt sich um die Antwort auf den Ruf Gottes. Es ist also nicht so, dass ich Gott anrufe und er antwortet mir, vielmehr antworte ich Gott.

 

Beten ist mühsam. Ich muss dafür Worte finden, und die dürfen nicht bloß Floskeln sein, vielmehr sollen sie offen und ehrlich sein. Es ist nicht immer einfach, eine Sprache für die Gebete zu finden. Hilfreich für das eigene Beten ist es, sich klar zu machen, dass wir uns schon längst und schon, ohne dass uns das bewusst sein muss, im Gespräch mit Gott befinden. "Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen." (Röm 8,26). Es ist gleichwohl heilsam, nach Worten zu suchen. Manchmal helfen die Psalmen, die oft genau das auszudrücken in der Lage sind, was in mir vorgeht. Zum Gebet gehört auch, darauf zu achten, ob und was Gott redet. Dass man dabei zuweilen auf Gottes eisernes und lang anhaltendes Schweigen stößt, soll hier nicht verschwiegen werden. Manchmal führt das Gebet mitten in die Gottesferne hinein. Wir erleben, wie abwesend Gott sein kann und erinnern uns daran, dass auch Jesus gebetet hat: Mein Gott, warum hast mich verlassen? Aber hinter diesem Schweigen verbirgt sich Gottes Reden. Wie die Frauen am Ostermorgen haben Unzählige erlebt, wie Gottes Reden aus seinem Schweigen hervorbricht. Und so, wie wir mit Gott zu sprechen lernen, so werden wir, die Betenden, auch untereinander sprachfähig und lernen so, den Glauben miteinander zu teilen. 

 

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