Es gibt keine "Gemeinschaft von Gemeinden".

Kommentar zum Präsesbericht auf der Rheinischen Landessynode 2020.

 

Manfred Rekowski wird von mir sehr geschätzt. Zum einen, weil er in seiner Verlässlichkeit, Aufrichtigkeit und Entschlossenheit ein wirklich großartiger Präses ist, dessen Amtszeit leider bald zu Ende geht. Zum anderen, weil ich ihm auch persönlich viel zu verdanken habe. Nach meiner schweren Krise 2007/8 war er einer derjenigen, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass ich damals den Pfarrdienst in der Rheinischen Kirche nicht verlassen habe, wozu es fast gekommen wäre. Das werde ich ihm nie vergessen. 

 

Sein Bericht vor der Landessynode 2020 veranlasst mich jedoch, auf drei Sachverhalte aufmerksam zu machen, für die ich mir eine gründlichere Klärung wünsche.  

 

1. Institution - Organisation - Bewegung

 

"Dass die Kirche Institution und Organisation ist, ist unter den protestantischen Kirchen in Deutschland unbestritten. Dass sie aber auch verstärkt Bewegung ist, wird in den nächsten Jahren immer bedeutsamer werden", sagt Rekowski in seinem Bericht. Die Theorie der Kirche als "Hybrid" von Institution, Organisation und Bewegung von Eberhard Hauschild ist mir gerade nicht so präsent, aber soviel ist deutlich: Auf der einen Seite war die Kirche am Anfang eine Bewegung, die dann irgendwann Organisation erforderte, was sich in der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen sehr schön studieren lässt. Daraus sind den stabile, die Zeiten und Menschenleben überdauernde, verlässliche und Dauer gewährende Strukturen entstanden, die Institution. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung - von der Bewegung über die Organisation zur Institution - zurück zur Bewegung umkehren lässt. Oder anders formuliert könnte man fragen, ob unsere Kirche, die zweifellos Institution und Organisation ist, "auch verstärkt Bewegung ist". Dass es - innerhalb und außerhalb der Kirche - viel Bewegung gibt, dass sich Glaube, Begegnung und Gemeinschaft in vielfältigster Weise ereignet, ist nicht zu bezweifeln. Aber wie hängen Organisation und Bewegung zusammen? Bringt die Organisation Bewegung hervor oder setzt sie sie voraus oder geschieht beides unabhängig voneinander? Wahrscheinlich lässt sich diese Frage nicht eindeutig und mit wenigen Sätzen beantworten. Aber soviel sollte festgehalten werden, dass es schlicht eine Überforderung ist, von der Organisation zu erwarten, dass sie Bewegung hervorbringt. Bewegung erfordert Organisation, aber sie wird nicht durch sie hervorgebracht. Das führt zu der Frage, woher die Bewegung dann kommt. Diese Frage wiederum führt zur evangelischen Ur-Entdeckung der Freiheit und Dienstbarkeit, also der Mündigkeit eines Christenmenschen, zum Priestertum der Getauften und damit zur Beobachtung, dass die Bewegung sich immer auf die Initiative der Einzelnen und der Begegnung zwischen Einzelnen zurückführen lässt - auch das lässt sich an den neutestamentlichen Berichten sehr schön beobachten. Dass diese Einzelnen zusammenkommen, Gemeinde bilden und dass das dann organisiert werden muss, steht dazu nicht im Widerspruch. Gemeinde setzt sich immer aus Einzelnen zusammen, die zueinander in Beziehung treten. Wenn Rekowski das so gemeint hat, dann geht das ja in Ordnung. Die nächste Grundannahme lässt mich aber ein wenig daran zweifeln, ob er das wirklich so sieht.

 

2. Die "Gemeinschaft von Gemeinden"

 

Rekowski hält "gezielte Erweiterungen der Kompetenzen der mittleren Ebene – insbesondere der Kreissynoden" für nötig. "Der Kirchenkreis ist die Gemeinschaft der Gemeinden", sie "hat insbesondere die Aufgabe, kirchliches Leben in einer Region zu gestalten und zu verantworten". Ich frage mich schon seit längerem, warum die kirchlichen Planer der Region immer wieder einen solchen Stellenwert einräumen. Menschen brauchen Orte, sie sind in erster Linie an einem Ort und nicht in einer Region zu Hause, jeder Mensch hat einen Wohn-Ort und dieser Wohnort verleiht, auch bei häufigem Wohnortwechsel, einem Menschenleben ein relatives Maß an Stabilität. Er ist, wenn er einer Gemeinde angehört, in dieser zu Hause, mit der identifiziert er sich, dort findet er die Menschen, die sich gegenseitig vertraut sind und die ein verlässliches Netzwerk persönlicher Beziehungen bilden. Der Kirchenkreis (oder das Dekanat, Bistum u. dgl.) spielt für ihn in aller Regel für das einzelne Gemeindeglied nur eine sehr untergeordnete Rolle. Gemeinschaft kann es nur zwischen Personen, die sich von Angesicht zu Angesicht wahrnehmen geben. Eine "Gemeinschaft von Gemeinden" gibt es nicht. Gemeinden können eine gemeinsame Organisation bilden, etwa einen Kirchenkreis. Aber das ist keine "Gemeinschaft". Wenn die Kompetenzen dieser "Gemeinschaft" dann auch noch erweitert werden sollen und sie die Aufgabe bekommt, "kirchliches Leben in einer Region zu verantworten und zu gestalten", muss das zwangsläufig zur Bevormundung oder gar zur Entmündigung derer führen, die ihren Glauben, ihr gemeinsames Leben, ihr Gemeindeleben vor Ort verantworten und gestalten. Denn die Freiheit eines Christenmenschen und die Mündigkeit, die sich aus der Wahrnehmung des Priestertums der Getauften ergibt, lässt sich nicht an Synodale delegieren. Sie kann nur persönlich wahrgenommen werden. Kirchenkreise können Rahmenbedingungen schaffen, in den Gemeinden gedeihen können. Aber sie können und dürfen niemals selbst Gemeinde werden.

 

Hartmut Becks hat in seinem Beitrag zum Infobrief des Pfarrvereins beschrieben, dass die Evangelische Kirche hier trotz intensiver sozialwissenschaftlicher Forschung veralteten Paradigmen folgt. "Bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts... galt gesellschaftliche Ungleichheit eher als Defizit und sollte zunehmend in Richtung einer immer gerechteren „Angleichung“ der Kultur- und Lebensverhältnisse überwunden werden." Doch ab Mitter der 70er-Jahr erhielt der "Begriff „Ungleichheit“... eine positivere Konnotation, da gerade hier auch Identifikationsräume, Szenen, Profile, Milieus etc. abbildbar waren, die in einem zunehmend unübersichtlicher werdenden Angebotsraum das wachsende Bedürfnis nach  Orientierung und Zugehörigkeit ermöglichten... Daher war auch in der Entwicklung des Sozialraums im Laufe der 90er Jahre nicht eine Tendenz zu immer einheitlicheren Großgebilden oder egalitären Verbänden, sondern sehr viel eher zu kleinteiligen Szenen, Stilen, Gruppierungen, Vereinen oder Gemeinschaften mit klar umrissenen Prädikaten, Eigenheiten, lokalen oder regionalen Verankerungen  zu beobachten."  Die EKD hielt aber am alten Gleichheitsparadigma fest: "Ganz offensichtlich wurde...  eine stärkere Vereinheitlichung, Kollektivität, Solidarität, Gesamtstruktur gewünscht und gefordert, die dem Idealbild einer „Einigkeit im Geist“ nach Epheser 4 nicht nur innerlich, sondern auch institutionell zu entsprechen hatte." Für die kirchenpolitische Praxis hatte das gravierende Folgen: "Unterschiedliche Prägungen, Traditionen, Stilbildungen, Verfasstheiten von Gemeinden oder kirchlichen Gruppen bestehen weiter, sind aber grundsätzlich eher im Sinne einer umspannenden Gemeinschaftsidentität von Synoden oder gar Landeskirchen zu überwinden." Dabei standen der kirchlichen Sozialwissenschaft selbst Erkenntnisse zur Verfügung, die Anlass gegeben hätten, diese Haltung in Frage zu stellen: "Die vom Rat der EKD 2015 vorgelegte Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft „Engagement und Indifferenz“  erbrachte im Ergebnis für manche Kirchenleitungen erstaunliche und unerwartete... Befunde, die letztlich wiederum die herausragende soziologische Bedeutung des örtlichen Pfarramtes sowie des Gemeindeprinzips belegten." Becks leitet davon die Forderung ab, das Gemeindeprinzip wieder zur Grundlage zu machen: "Nur durch die konkrete, vernehmbare Präsenz im Alltag vor Ort gelingt die Glaubwürdigkeit, die Überzeugungskraft, das Vertrauen, das den Großinstitutionen in postmodernen Gesellschaften leider nicht mehr entgegengebracht werden kann."

 

3. Diasporafähigkeit

 

Es ist erfreulich, dass Rekowski, "die grundsätzliche Ausrichtung der Evangelischen Kirche im Rheinland als Volkskirche bleibt weiterhin erhalten" wissen möchte, als eine Kirche also, "die mit ihren Angeboten offen ist für Menschen mit anderem Taufschein oder anderem ethnischem Hintergrund und die eintritt für eine interkulturelle Öffnung." Das steht allerdings im Widerspruch zur Rede davon, diasporafähig zu werden. Entweder ist unsere Kirche Volkskirche, oder aber sie Kirche in der Diaspora. Rekowski begründet seine Forderung nach Diasporafähigkeit damit, dass nur 53 Prozent der Gesamtbevölkerung Christinnen und Christen sind. Er hätte genauer formulieren und statt "Christinnen und Christen" "Kirchenmitglieder" sagen sollen. Wir stellen immer wieder fest, dass die Aufgabe der Mitgliedschaft keineswegs mit der Abwendung vom Christentum gleichzusetzen ist. Wie oft begegnen wir Menschen, die sich als evangelisch oder katholisch bezeichnen und ihre christliche Identität betonen, obwohl sie aus der Kirche ausgetreten sind! Sie berufen sich damit nicht auf den Status der steuerpflichtigen Mitgliedschaft, sondern - theologisch völlig zu recht! - auf die Tatsache, dass sie getauft sind. Ich sehe in dieser Beobachtung eine große Chance, ein anderes Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und zur Öffentlichkeit zu entwickeln. Wir befinden uns keineswegs in der Diaspora oder Fremdlingschaft. Wir verzichten aber darauf, die Kirchenmitgliedschaft zur Grenzmarkierung zwischen Christen und Nichtchristen zu machen. Wir überlassen den Zeitgenossen selbst, zu entscheiden, wie nah dran an oder weit weg von der Kirche sie sind. Das wird sich im Laufe eines Lebens immer wieder wandeln. Wir gehen davon aus, dass nicht nur einzelne Menschen, sondern die Gesellschaft und Öffentlichkeit als ganze die Kirche braucht - als Institution, die Orte bereithält, an denen sich Vertrauen, Verantwortung und Versöhnung einüben und erfahren lässt. Ja, als Institution! Die Kirche wird keineswegs nur als Bewegung gebraucht, sondern auch als Institution, als verlässlicher, offener Ort, der jederzeit von jeder und jedem aufgesucht werden kann. Diesen Ort verlässlich offen zu halten, erfordert dann allerdings in der Tat Bewegung und Organisation. Menschen also, die mit Hilfe der Praxis ihres Glaubens präsent und resonant und damit einfach da sind. 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0