Kirche ist langweilig. Sie muss es sein.

Predigtmeditation über Johannes 15,1-8 für Jubilate, 3. Mai 2020 -
den Predigttext finden Sie hier.

 

"Da erweckt der Eindruck von Not und Kümmerlichkeit der Kirche und von der geistigen Leere der Menschen ringsum einen Zustand nervöser Angst, es sei noch nicht genug geschehen, und die Kirche stürzt sich in eine noch größere Menge von Unternehmungen aller Art... ein Durcheinander kirchlicher Organisationen vom Großmütterverein bis zur Kinderkrippe, eine Unzahl von Sonntagsblättern, Traktaten und Flugblättern, Lichtbildvorführungen und kirchlicher Filmbetrieb und ungezählter Dinge mehr. Die Betriebsamkeit greift von den Pfarrern auf die Gemeinden selber über und jagt sie von einer 'christlichen' Veranstaltung zur anderen... Es ist eine verzweifelte Selbsthypnose, in der die Diener der Kirche sich über die wahre Lage der Kirche und der Menschheit beruhigen. Und diese... Dinge werden dann mit anderen wichtigeren Dingen sorgfältig in statistischen Sammelwerken zusammengetragen, um Kraft und Bedeutung der evangelischen Kirche vor der Welt zu rechtfertigen."

 

Diese Sätze stammen aus dem Jahr 1925, aus dem in Vergessenheit geratenen "Berneuchener Buch", einer Reformschrift, die von ca. 70 evangelischen Persönlichkeiten veröffentlicht wurde. Sie kamen aus den verschiedensten Zusammenhängen und trafen sich dazu auf dem Gut Berneuchen (heute Barnówko in Polen). Man muss einige Begriffe wie "Sonntagsblätter" oder "Lichtbildvorführungen" durch heute gängige Medien austauschen - aber dann haben wir eine Situationsbeschreibung vor uns, die exakt auf unsere Lage passt - es ist verblüffend zu sehen, wie in die Evangelische Kirche in den Weimarer Jahren so ziemlich genau dieselbe Stimmung herrschte wie wir sie heute erleben - und wie sie genau so drauf reagierte wie wir heute tun!

 

Manchmal habe ich den Eindruck: Wir billigen uns als Kirche nur dann eine Existenzberechtigung zu, wenn wir möglichst originell sind. Unkonventionell ist die neue Konvention. Der Kreativitätsdruck ist enorm. "Schön, dass Kirche auch mal so sein kann", sollen die Leute sagen. Die Jagd nach dem "Wow!"-Faktor treibt uns an. Es darf nicht nach "Kirche" aussehen oder riechen (was meist dazu führt, dass genau das der Fall ist) und unsere Predigten sollen vor sprachlichen Überraschungseffekten nur so strotzen (wodurch sie erst recht in Kirchensprache verfallen).

 

Dahinter steckt Angst. Ohne dass wir - für wen auch immer - interessant sind, können wir nicht rechtfertigen, dass es uns gibt. Ohne dass wir Aufmerksamkeit erregen, könnten wir in Vergessenheit geraten. Ohne dass wir im Tagesgespräch der Leute vorkommen, könten wir bedeutungslos werden. Das ist der Druck, unter dem wir stehen. Wir befinden uns in einem Originalitäts- und Kreativitätswettbewerb, und Sieger ist, wer auffällt. Wer nicht dazu gehört, kommt noch mehr in Stress, weil, irgendwann müssen die Leute ja auch mal die eigene Pfiffigkeitskompetenz entdecken. Wem das nicht gelingt, droht im Meer der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

 

Das Gleichnis vom Weinstock weist den Weg aus dem Dilemma. Es geht nämlich genau nicht darum, stets nach dem bisher noch nie Dagewesenen jagen - um dann zu entdecken, wie viele schon längst vor uns auf die selbe Idee gekommen sind. Es geht vielmehr um gepflegte Langeweile. Kirche muss konservativ sein. Wie soll es denn anders gehen? Wir lesen seit Jahrtausenden aus dem selben Buch. Wir beten Gebete, die lange vor unserer Zeitrechnung gebetet wurde. Wir singen dieselben Lieder auch schon seit Jahrhunderten. Wir hören und predigen Gottes Wort, dass sich per Definition nicht ändert. 

 

Nichts ist wichtiger als eben dabei zu bleiben - treu, verlässlich, kontinuierlich, beständig, eben: langweilig. Wir hören und sagen auf der Kanzel, was vor zwei, zwanzig, zweihundert oder zweitausend Jahren auch schon zu hören war. Was anderes wollen und sollen die Leute nicht hören. Das alles soll sich nicht ändern. Was sich allerdings ändert, sind die Zeiten, in die hinein wir immer wieder das selbe sagen. Das ist natürlich zu berücksichtigen. Martin Luther hat den Leuten aufs Maul geschaut. Damit die Leute uns verstehen, müssen wir erst sie verstehen. Die Theologen reden dann immer von "Hermeneutik" - das ist die Kunst, sich mit immer wieder derselben Botschaft in stets sich ändernden Situationen verständlich zu machen. Es sind immer wieder andere Leute - aber es bleibt kontinuierlich und beständig und langweilig dieselbe Botschaft. Dieselbe Message. Derselbe Content. 

 

"Bleibt in mir": Das Schlüsselwort im Weinstock-Gleichnis heißt "bleiben". Bleiben erfordert Beständigkeit, Kontinuität, Geduld, Ausdauer. Bleiben erfordert also etwas, was derzeit nicht sonderlich gefragt ist. Aufbruch, Flexibilität, Beweglichkeit, Risikofreude - das klingt viel aktueller. Eine Gemeinde, die stets für das Neue offen ist, kommt eher in die Schlagzeilen als eine, die treu und zuverlässig bei dem bleibt, was sie verantwortet. Das ist "Bleiben". Und "Bleiben" ist eine entscheidende Voraussetzung für... Wachstum.

 

Sowohl im Alten wie im Neuen Testament ist das natürliche Wachstum ein Bild dafür, wie Gott sich verhält. Er handelt und schafft, indem er wachsen lässt. Wachsen ist etwas, was viel Zeit braucht. Wo man nicht zugucken kann - es scheint ja nichts zu passieren. Da tut sich irgendwie nichts. Besser gesagt, was sich tut, lässt sich erst in der Rückschau sehen. Entscheidend ist, was am Ende rauskommt. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt... Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.

 

Wachstum führt zu Früchten. Auf die kommt es an. Das "Bleiben" ist Voraussetzung dafür, dass Früchte reifen. Ohne "Bleiben" kein Wachstum und ohne Wachstum keine Früche, also: Ohne Bleiben keine Früchte. Und die kommen automatisch.

 

In jenem Kreis, der hinter dem "Berneuchener Buch" steht, das ich anfangs zitiert habe, stammt auch die sogenannte "Regel des geistlichen Lebens". Die ist zwar in der sprachlichen Fassung von damals heute nicht mehr brauchbar (ich dokumentiere den Wortlaut unten im Anhang), aber die dort aufgeführten sechs Punkte sind exakt die, die nötig sind, um zu bleiben. Mehr als diese sechs Regeln sind nicht notwendig. Aber diese sechs braucht es. Ich führe sie hier auf: 

  1. Wir üben uns im Schweigen. So schaffen wir den Raum, in dem wir Gott begegnen können.
  2. Wir machen uns mit der Bibel vertraut. Sie ist die Wurzel unseres Glaubens.
  3. Wir reden mit Gott und hören auf ihn.
  4. Wir laden uns gegenseitig in unsere Häuser ein und wirken am Leben unserer Ortsgemeinde mit, um seinen Namen anzurufen, das Wort Gottes zu hören, den Bund zu erneuern und uns gegenseitig zu segnen.
  5. Wir sind achtsam, machen uns für andere verlässlich und übernehmen Verantwortung.
  6. Wir nehmen gegenseitig Anteil an unserem Leben und Glauben.

Wenn diese Regel des Geistlichen Lebens konsequent und dauerhaft praktiziert wird, sind die "Früchte" so sicher zu erwarten, wie der Apfelbaum Jahr für Jahr trägt. Es gibt gute wie schlechte Jahre - aber die Früchte werden reifen. So oder so. "Denn wie dir der Glaube die Seligkeit und das ewige Leben bringt, so bringt er dir auch mit sich gute Werke und ist unaufhaltsam. Denn gleich wie ein lebendiger Mensch sich nicht kann enthalten, er muss sich regen, essen, trinken, und zu schaffen haben, und nicht möglich ist, dass solche Werke können ausbleiben, solange er lebt, dass man nicht nötig hat, ihn zu befehlen und ihn zu treiben, solche Werke zu tun, wenn er nur lebendig ist, so tut er's." (Martin Luther)

 

Anhang: Der ursrpüngliche Wortlaut der "Regel des geistlichen Lebens" (formuliert von Wilhelm Stählin): 

  1. Ich weiß, dass mein Leben fester Zeiten der Ruhe, des Schweigens, der Sammlung bedarf. Ich will treu darin sein, mein Leben in solcher Ordnung zu führen.
  2. Ich will mich durch nichts abhalten lassen, täglich nach festem Plan in der Heiligen Schrift zu lesen.
  3. Ich will alle Tage Gott loben und ihm danken, ihn um Erkenntnis seiner Wahrheit und seines Willens bitten und mich im Gebet ordnen, reinigen und stärken lassen. Ich will auch der Menschen, mit denen ich verbunden bin, meiner Kirche und meines Volkes im Gebet vor Gott gedenken.
  4. Ich will, wo und wie es mir möglich ist, an dem Leben der christlichen Gemeinde, an ihrem Gottesdienst und an der Feier des Heiligen Mahles teilnehmen und halte mich bereit für den Dienst, zu dem ich gerufen werde.
  5. Ich bin ernstlich bemüht, mein ganzes Leben in Haus und Beruf und alles, was ich rede und tue unter die Verantwortung vor Gott stellen, Unordnung und Unrecht zu meiden und allen denen, die meiner Hilfe bedürfen, um Christi willen zu dienen.
  6. Ich bin bereit, seelsorgerlichen Rat anzunehmen und weiß, dass Glieder am Leibe Christi brüderliche Zucht an sich üben lassen und aneinander üben.

 

 

 

 

 

 

 

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