Die drei Freiheiten des evangelischen Christentums

Erst wenn die drei großen Freiheiten des evangelischen Christentums wieder hergestellt sind, wird unsere Kirche aufatmen können.

 

Die erste der drei großen Freiheiten ist die Freiheit eines Christenmenschen, so, wie Luther sie genannt hat. Sie besagt, dass der freie Christenmensch allein seinem Gewissen unterworfen ist und sonst niemandem. Sie entsteht durch die Verkündigung des Evangeliums, das die Hörenden vor die Frage stellt: “Auf was oder auf wen kann ich mich verlassen?" Und: "Wer soll sich auf mich verlassen können, also: vor wem verantworte ich mich?“ Dies kann jeder Mensch ausschließlich allein für sich beantworten. Es ist die Taufe, die dem Menschen gegenüber, der getauft wird, dies verbindlich zum Ausdruck bringt: Du kannst dich auf Gott verlassen, aber er braucht dich auch, er überträgt dir Verantwortung, in biblischer Sprache ausgedrückt: du bist von Gott berufen.

 

Viele glauben, evangelisch sei, wer der evangelischen Kirche kirchensteuerpflichtig angehöre. Zuweilen trifft man auch auf Menschen, sie sich für evangelisch halten, obwohl sie aus der Kirche ausgetreten sind. Die letzten haben recht: evangelisch ist jemand, weil er getauft ist und nicht, weil er der Kirche angehört. Mitglied in der Kirche zu sein oder nicht entscheidet darüber nicht. Wer getauft ist und evangelisch sein will und damit seine Taufe bzw. die Tatsache seines Getauftseins bejaht, ist evangelisch bzw. hat als evangelisch zu gelten. Es ist also ein fataler Irrtum, zu meinen, ein Mensch werde dadurch evangelisch, indem er in die evangelische Kirche (wieder)eintritt. Wenn er getauft ist, war er das vorher schon. Ob er dies durch Mitgliedschaft oder durch die Beteiligung an Gottesdiensten und Gemeindeleben zum Ausdruck bringt, liegt ausschließlich in seinem eigenen Ermessen. Die Art und Weise, wie die Kirchenmitgliedschaft geregelt ist, hat vor allem praktische und organisatorische Bedeutung, theologisch ist ihrer Bedeutung untergeordnet. Sie kann also auch völlig anders ausgestaltet werden, ohne dass das Kirchesein der Kirche und das Christsein des Christen dadurch in Frage steht. Wichtig ist allein: Meine Taufe und wie ich mich ihr gegenüber verhalte entscheidet darüber, ob ich Christ bin oder nicht. Die Gleichsetzung von Kirchenmitgliedschaft und Evangelisch-sein verleitet dazu, die Kirchenmitgliedschaft gewissermaßen als Rundum-Sorglos-Paket zu verstehen: Du zahlst deine Kirchensteuer und um alles andere kümmern wir uns. Die Freiheit eines Christenmenschen lässt sich aber nur verwirklichen, wenn wir ihm sagen: du bist frei darin, wie du deinen Glauben verstehst und gestaltest. Aber du bist dafür auch verantwortlich.

 

Die zweite der drei großen evangelischen Freiheiten ist die Freiheit der Gemeinde. Heute sind die Gemeinden in der evangelischen Kirche kaum noch eigenständige und selbständig handelnde Körperschaften. Sie sind längst zu Unterabteilungen der Kirchenkreise oder der Landeskirche geworden, die kaum mehr leisten können, als das umzusetzen, was “von oben“ kommt. Das erfordert in hohen Maß Management und Verwaltung, die eine kaum kontrollierbare Eigendynamik entfalten und damit die Eigenverantwortlichkeit der Gemeinden praktisch außer Kraft setzen. Darüber hinaus kann von Ortsgemeinden schon lange keine Rede mehr sein. Sie sind längst zu regionalen Gebilden geworden, was dazu führt, dass die “Gemeindeglieder“ je nach Funktion stets mit anderen Personen zu tun haben. Verlässliche Beziehungen sind eine Voraussetzung für ein gesundes Gemeindeleben, aber die können so nicht mehr entstehen. Eine solche Gemeinde, die mehr Verwaltungseinheit als Gemeinschaft ist, kann so keine Heimat mehr stiften – das aber ist unabdingbar! Es wäre geboten, diese Gebilde nicht mehr “Gemeinde“ zu nennen. Vielleicht bietet sich an, sie nach katholischen Vorbild als “Pfarrei“ zu bezeichnen. Denn so unterschiedlich schon im Neuen Testament die Gemeinden sind, ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie sind stets die kleinsten Einheiten, stabile Netzwerke dauerhafter persönlicher Beziehungen, mit einem festen, identifizierbaren Ort für ihre Versammlungen und Gottesdienste. Solche lokalen, überschaubaren Netzwerke sind zwangsläufig durch das gemeinsame Bekenntnis, die gemeinsame Ordnung, die gemeinsame Repräsentation und die gemeinsame Wahrnehmung von Aufgaben, die von einzelnen Gemeinden nicht alleine wahrgenommen werden können, miteinander zu einer Kirche verbunden – aber diese kann mehr nicht sein als ein Rahmen, durch den die Gemeinden verbunden werden. Solche Gemeinden können nur dann lebendig und lebensfähig sein, wenn sie für sich selbst verantwortlich sind und ihr Angelegenheiten selbständig regeln können. Dazu gehört übrigens auch, dass Gemeinden sterben dürfen, wenn sie nämlich, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr die nötige Lebenskraft entwickeln. Das können sie nämlich im gegenwärtigen System nicht, weshalb die Gefahr, vielleicht auch schon die Realität groß ist, dass Gemeinden zu praktisch toten Gemeinden werden, die aber dennoch nicht sterben – und damit Platz für neues Leben machen – dürfen.

 

Die dritte der drei großen Freiheiten des evangelischen Christentums ist die Freiheit des Pfarramts. Im Grunde gehört das evangelische Pfarramt, auch im Vergleich zum römisch-katholischen Priestertum, zu den großen Stärken und Schätzen der evangelischen Kirche: Eine Person nach gründlicher und umfassender theologischen Bildung für den pastoralen Dienst freistellen zu können, das trägt maßgeblich dazu bei, evangelisches Christentum öffentlich präsent und zugänglich zu halten. Tatsächlich kann von einer Freistellung schon lange nicht mehr die Rede sein. Das Pfarramt kann sich in der Tat nur entfalten, wenn die, die es innehaben und ausüben, ausschließlich den eigenen Gewissen und dem Wort Gott verpflichtet sind, das sie ja zum Klingen bringen sollen. Längst aber sind die Pfarrerinnen und Pfarrer zu Funktionären geworden, denen die Verantwortung für das Funktionieren des kirchlichen Apparates auferlegt wurde. Sie sind nicht wirklich frei, statt dessen in vielfältiger Weise weisungsgebunden. Für die Wahrnehmung des eigentlichen Pfarramtes bleibt kaum noch die nötige Zeit. Der noch immer nicht abgeschaffte Ungedeihlichkkeits-Paragraph, der jederzeit ohne Angabe von Gründen es möglich macht, Pfarrerinnen und Pfarrer aus ihrem Amt zu entfernen, zerstört die Freiheit des Pfarramtes nachhaltig und dauerhaft, auch wenn diese in der Kirchenordnung formal vorgesehen ist. Die Folge davon ist, dass die, die noch den Mut haben, ein Pfarramt ausfüllten, häufig ausgebrannt, erschöpft und gesundheitlich angeschlagen sind und oft nur noch “funktionieren“ und dass sich inzwischen kaum noch jemand für den eigentlich faszinierenden und herausfordernden Pfarrberuf interessiert.

 

Die drei großen Freiheiten des evangelischen Christentums: Sie sind es, die unsere Kirche ausmachen. Sie sind die Kennzeichen dessen, was wir meinen, wenn wir “evangelisch“ sagen. Sie machen das Alleinstellungsmerkmal unserer Kirche aus. Um ihretwillen ist sie unersetzlich. Aber sie sind alle drei schwer beschädigt und angeschlagen. Die Folgen davon sind mit Händen zu greifen und der entstandene Schaden kaum zu überblicken.

 

Auf der anderen Seite ist das Grund zur Hoffnung. Denn hier zeigt sich in der Tat der Weg aus der Krise: Wenn wir denn Mut haben und uns die Aufgabe mit viel Geduld angehen, dann wird sich zeigen, wie unsere Kirche auf ein Mal wieder hoch interessant, spannend und anziehend wird, in dem Maße, indem die Freiheiten wieder hergestellt wegen.

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