“Ich armer elender sündiger Mensch bekenne dir alle meine Schuld und Missetat die ich begangen mit Gedanken, Worten und Werken…“
So bin ich aufgewachsen und erzogen worden. Die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden, der Kern des evangelischen Glaubens, hatte für mich als Jugendlichen durchaus was Befreiendes für mich. Dass Gott keine Bedingungen stellt, keine Vorleistungen erwartet, nicht unter Druck setzt – das begriffen zu haben, war der Anfang und ist bis heute der Kern meiner christlichen Existenz.
Aber da war auch die andere Seite. Wenn Gott dem Sünder gnädig ist, muss der erst mal zum Sünder werden. Wie vielen Versuchen, mich zum Sünder zu machen, bin ich wohl ausgesetzt gewesen! Man ließ mich spüren, wie traurig oder zornig Gott über mich war, weil ich so gar nicht war, wie er mich wollte. Ich sollte Angst vor ihm haben, ein schlechtes Gewissen, ein ganz elendes Gefühl, ich sollte mich über mich selbst schämen, damit ich motiviert war, meine Sünden vor Gott zu bekennen und Jesus als meinen Herrn anzunehmen. Denn das war die einzige Rettung in diesem Dilemma. Und so sollte ich Christ werden, und so wurde ich es wohl auch.
Am schlimmsten waren die sogenannten Zeltmissionen. Das war eine seltsame Geschichte. Da zogen Evangelisten und Missionare durchs Land, die aber für ihre Predigten nicht Kirchen, Gemeindehäuser oder andere öffentliche Gebäude aufsuchten, sondern ihre eigenen Zelte mitbrachten. Die waren manchmal so groß, dass bis zu 2000 Menschen da rein passten.
Da wurde ich als aufwachsender Jugendlicher mürbe gemacht. Eine oder zwei Wochen lang. Jeden Abend. Angst. Angst, aus der nur Jesus retten konnte. Ich erinnere mich noch, wie ich völlig beunruhigt von einem solchen Abend nach Hause kam und mein Vater, der ja Pfarrer war, erst mal meine Gedanken sortieren musste, damit ich wenigstens ruhig schlafen konnte. Das konnte er gut.
Ich war ein schlechter Mensch. Aber ich wusste nicht, warum. Was hatte ich eigentlich gemacht, dass es so weit kam? Ich hatte das Bedürfnis zu beichten, in der Hoffnung, mich so von diesem Druck zu befreien. Aber was sollte ich beichten, nur, um ein “neuer Mensch“ zu werden? Erst viel später hatte ich begriffen, dass solches Sündenbekennen auch abhängig und unmündig machen kann. Jesus sprach den Menschen sofort die Vergebung der Sünden zu und hatte keinerlei Interesse an Sündenbekenntnissen und Beichtgesprächen. Er hat sie als Sünder angesprochen, nicht, weil sie was zu verbergen hatten, sondern weil sie Menschen waren. Der Mensch ist Sünder, weil er Mensch ist und der Mensch oder die Menschheit hat versagt.
Damals war bei den Zeltmissionsabenden übrigens nie die Rede vom dritten Reich und vom Holocaust, vom kalten Krieg und den Atomwaffen, vom Elend der “dritten Welt“ und den Stellvertreter-Kriegen. Die Umweltzerstörung war damals ohnehin noch kein Thema. Es ging ja nur um das, was ich selbst zu verbergen hatte und wofür ich mich persönlich schämen sollte.
In den Bußpredigten der Propheten, des Täufers und Jesu war das anders. Es ging nicht um die Peinlichkeiten, schmutzige Wäsche, Unmoralisches und alles, worüber man normaler Weise besser schweigt. Vielmehr um die Tatsache, in welch dramatischer Verfassung sich die Erde, der Wohnraum des Menschen befindet. Es ist die Botschaft der Bibel, aber doch eigentlich auch sonst für jedermann offensichtlich, dass der Mensch die Fähigkeit hat, in die Schöpfung einzugreifen, dass er so zum Mitgestalter der Schöpfung wird. Es ist ebenso offensichtlich, dass er diese Vollmachten und Kompetenzen gebrauchen oder missbrauchen kann, entweder im Dienst an der Schöpfung oder um Raubbau an ihr zu begehen. Nach biblischer Auffassung hat Gott den Menschen damit zu seinem Mitarbeiter gemacht und ihm dafür Verantwortung und Kompetenzen übertragen: “Und Gott nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ (1. Mose 2,15) “Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“ (Psalm 8,6). Auch Jesus bestätigt diese Sicht des Menschen (vgl. Matthäus 25,14-30 = Lukas 19,12-27).
Was der Mensch mit den ihm verliehenen Vollmachten gemacht hat, liegt offen zu Tage: Der Zustand der Schöpfung ist so bedroht wie nie zuvor. Durch die Einheit von Natur – Werk Gottes – und Kultur – Werk des Menschen – sollte sie zum Glanzstück des Schöpfers werden. Stattdessen steht sie am Abgrund. Die Menschheit hat ihre Freiheit missbraucht. Sie hat Schuld auf sich geladen.
Es ist bemerkenswert, wie unterschiedlich man damit umgehen kann und man kann im laufenden Europawahlkampf den unterschiedlichen Umgang damit gut studieren:
- Die einen beschwichtigen oder spielen herunter: “Panikmache! Es ist doch alles gar nicht so schlimm“.
- Andere halten die Katastrophe für kaum noch abwendbar: “Es ist fünf nach zwölf!“
- Die dritten sehen darin eine Herausforderung: “Wenn wir jetzt nicht endlich handeln…“
- Wiederum andere setzen auf Fortschritt und Technologie: “Es gibt viel zu tun, packen wir’s an.“
- Und schließlich gibt es die, die das Thema einfach nur ignorieren und in Ruhe gelassen werden wollen.
Von selbst aber käme wohl niemand auf die Idee, die Haltung einzunehmen, zu der die Schriften der Bibel ermutigen: die Schuld einzugestehen, das Versagen einzuräumen und um Vergebung zu bitten. Das würde ja die Hoffnung voraussetzen, dass da jemand ist, der in der Lage wäre zu vergeben und der es auch täte. Und nicht nur das: er würde den Menschen erneut in die Pflicht nehmen und ihn beauftragen, Verantwortung für seine Schöpfung und seine Geschöpfe zu übernehmen.
Darum hat das Schuldbekenntnis im Gottesdienst eine ganz zentrale Funktion. Es geht nicht um persönliche Schuld und individuelles Fehlverhalten. Es geht um das Eingeständnis, dass die Menschheit als Ganzes dem ihr verliehenen Auftrag nicht gerecht geworden ist, die übertragenen Vollmachten zum vermeintlichen eigenen Nutzen missbraucht und damit rundherum versagt hat. Und weil wir alle Menschen sind, Teil der Menschheit, stecken wir da, ob wir wollen oder nicht, alle mit drin.
Manchmal wird von Angeklagten berichtet, dass sie erleichtert sind und aufatmen, wenn sie ein umfassendes Geständnis abgelegt haben. Ein Schuldbekenntnis hat durchaus befreiende Wirkung. Zuzugeben, wir haben’s vermasselt und kommen alleine aus der Scheiße nicht mehr raus, das macht alles Herumeiern überflüssig. Das entlastet.
Aber vergeben können wir uns nicht selbst. Wir können nur hoffen, dass der, der uns vergeben kann, es auch wirklich tut und uns sogar neu in den Dienst nimmt. Wenn die Heilige Schrift wirklich das Wort Gottes ist, dann sagt sie das zu. Und dann steht jeder von uns vor der Frage: Schenken wir diesem Wort unseren Glauben?
Darum wird die Kirche schon in naher Zukunft eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Zusammenleben spielen. Weil sie es ist, die ein solches Schuldbekenntnis ermöglicht. Wer sollte es denn sonst tun können?
Sollten wir nächsten Gottesdienst die Gelegenheit haben, Luthers Beichtgebet (in unserem Gesangbuch unter der Nummer 847) mitsprechen, dann nicht im Blick auf unsre persönliche Schuld. Um die geht es hier nicht. Sondern um das Versagen der Menschheit, von der wir ein Teil sind.
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