Als in den Jahren dem zweiten Weltkrieg unsere Landeskirche ihre Form annahm, wie wir sie kennen, waren die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus noch sehr
präsent. Man wollte alles tun, damit sich so etwas nicht wiederholte. Deswegen mied man Begriffe, wie sie im politischen Leben üblich waren. Man wollte konsequent den Eindruck verhindern, die
Kirche sei so etwas wie eine quasi-staatliche Einrichtung. Die Kirche sollte sich von unten aufbauen, aber man gebrauchte den Begriff der Demokratie nicht. Man griff lieber auf das
Kirchenverständnis der reformierten Tradition zurück und sprach von einer presbyterial-synodal geordneten Kirche.
Diese Entscheidung hatte fatale und bis heute anhaltende Wirkungen. Wenn die Kirche nicht demokratisch, sondern presbyterial-synodal ist, was ist der Unterschied?
Handelt es sich um einen Begriff für ein und die selbe Sache oder ist was anderes gemeint? Wenn sich die Kirche - wie es die Reformierten ja ausdrücklich wollten! - von unten her aufbaut: Wie
soll man überprüfen, ob das tatsächlich der Fall ist, wenn man demokratische Kriterien nicht anwenden darf? Dann das hieße, eben doch Gebrauch machen zu müssen vom Begriff der
Demokratie.
Die Folge davon ist eine nachhaltige und häufig nicht bewusste Verschleierung der tatsächlichen Machtstrukturen. Unsere Kirche ist tatsächlich nicht demokratisch. Es gibt eine Fülle von Fakten, die eine echte demokratische Gestaltung des kirchlichen Lebens verhindern. Auf einige mache ich hier aufmerksam:
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Viele Mitglieder der Presbyterien - "Presbyterium" ist die Bezeichnung für den Vorstand der Gemeinde - sind gar nicht gewählt, sondern nur benannt. Das ist
immer dann der Fall, wenn nicht genügend Gemeindemitglieder bereit sind, sich ins Presbyterium wählen zu lassen, oder gerade einmal so viele, wie Plätze zu besetzen sind. Dann gelten die
Kandidierenden als gewählt. Die Gemeinde hat in diesem - durchaus häufig anzutreffenden - Fall keinen Einfluss darauf, wer dem Presbyterium angehört und wer nicht. Sie hat nicht die
Möglichkeit, bestimmte Personen eben nicht zu wählen, wenn diese nach dem Willen der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler nicht ins Presbyterium gehört.
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Zwischen den Wahlen hat das Presbyterium die Möglichkeit, neue Mitglieder zu "kooptieren", d. h. dazu zu wählen und sich so zu ergänzen - im politischen Leben
wäre das völlig undenkbar!
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Die Kirchenordnung regelt nicht in ausreichendem Maße, inwieweit im Blick auf die Beratungen Öffentlichkeit hergestellt werden muss. Bei städtischen Gremien z.
B., etwa im Blick auf Sitzungen des Rates, der Bezirksversammlungen und der Ausschüsse ist die Öffentlichkeit stets gewährleistet und Protokoll sind in der Regel am nächsten Tag im Internet
abrufbar. Mit Hinweis auf den Vertrauensschutz oder die Vertraulichkeit der Anliegen (vom wem diese auch immer festgestellt wird), wird in der Regel die Öffentlichkeit verhindert.
Presbyterien schotten sich häufig ab und die Öffentlichkeit wird erst mit vollendeten Tatsachen konfrontiert. Eine Kontrolle der Arbeit des Presbyteriums, wie das im politischen Leben
selbstverständlich ist, ist so unmöglich. Die Gemeinde ist so auch von wichtigen Entscheidungsprozessen weitgehend ausgeschlossen.'
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Und es geht weiter: Auch die Delegierten von Landes- und Kreissynode sind nicht gewählt. Sie werden von den Presbyterien, deren Mitglieder ja oft selbst nicht
gewählt sind, benannt. Und häufig ist dafür ausschlaggebend, wer schon immer in der Synode war ("der hat das letztes Mal schon gemacht, der kann das, der hat Erfahrung"). So entstehen
Erbhöfe: Synodale haben Sitz und Stimme manchmal über Jahrzehnte inne, weil sie es schon immer waren. Dass auf derart zusammengesetzten Synoden nicht gerade der Geist der Innovation
ausbricht, kann niemanden verwundern.
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Eine besondere Rolle spielen die Personen im ordinierten Amt: Der Vorsitz oder den stellvertretenden Vorsitz muss stets von einer Pfarrerin oder einen Pfarrer
wahrgenommen werden. Alle Pfarrerinnen und Pfarrer sind als Mitglieder der Kreissynode gesetzt. Auf die Landesynode werden mit Superintendentin oder Superintendent und eine weitere
ordinierte, von der Kreissynode zu wählende Person entsandt. Zwar müssen mehr nichttheologische Personen dort sein, aber das Gewicht der Theologen ist immer noch fast erdrückend. Man fragt
sich, wieso überhaupt ordinierte Personen Stimmrecht in den kirchlichen Parlamenten haben müssen. Ansonsten wird in unserer Landeskirche gerne darauf verwiesen, dass der theologische Beruf
einer unter vielen kirchlichen Berufen sei und auf die Kooperation mit diesen angewiesen sei. Tatsache ist aber, dass die ordinierten Theologinnen und Theologen eine institutionelle Macht
haben, gegen die kaum etwas gesetzt werden kann.
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Aber nun geschieht etwas höchst Bemerkenswertes. Durch dieses institutionelle Übergewicht - Pfarrer oder Pfarrerin grundsätzlich als mindestens stellvertretende
vorsitzende Person, geborene Mitgliedschaft in den Synoden etc. - wächst den theologischen Amtspersonen in hohem Maße administrative Entscheidungshoheit zu - d. h. gegen die Theologinnen und
Theologen in den verschiedenen Ämtern kann in der Regel nichts entschieden werden. Wer aber administrative Entscheidungsbefugnis erhält, übt diese auch administrativ aus. D. h. die Autorität
der Dienerinnen und Diener am Wort beruht nicht mehr auf theologischer Kompetenz und geistlicher Präsenz, sondern auf der Ausübung rein administrativer Entscheidungsbefugnis. Dazu müssen sie
sich in administrative Zusammenhänge immer weiter einarbeiten, ohne dafür wirklich ausgebildet zu sein. Sie sind in dieser Hinsicht weiterhin auf den Rat der Verwaltungsfachleute angewiesen,
die dadurch zum eigentlichen kirchlichen Machtzentrum werden. Nimmt man hinzu, dass die Administration auf Grund ihrer zunehmenden Zentralisierung immer höhere Ansprüche an die Kompetenzen
der dort Verantwortlichen stellt (was sich in immer höheren Besoldungsstufen ausdrückt), dann wird klar: Zwar haben die Theologinnen und Theologen die geballte Entscheidungsbefugnis auf ihrer
Seite. Aber real haben die Fachleute der Administration die Macht, weil gegen deren Rat und Meinung nichts mehr in die Wege geleitet werden kann. Auch die theologischen Personen können kaum
mehr tun als umzusetzen, was in der Verwaltung vorgedacht wurde, und dazu setzen sie ihre Autorität als theologische Person gerne ein.
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Zugleich stehen Theologinnen und Theologen, die immer mehr von administrativen Vorgängen in Anspruch genommen werden, für den Gebrauch ihrer theologisch,
biblischen und geistlichen Kompetenz immer weniger zur Verfügung. Theologische Arbeit, Studium der biblischen Schriften, Geistliches Leben, Gestaltung des Glaubens und die Pflege von
Geschwisterschaft sind dann zwar willkommene Zutaten zum Gemeindeleben, aber in der Not ginge es auch ohne sie. Gemeindeleben lässt sich im extremen Fall auf administrative Vorgänge
reduzieren. Darüber hinaus sind Überforderung und Burnout im Pfarrberuf damit fast schon vorprogrammiert. Noch einmal: Warum müssen die theologisch Mitarbeitenden und die Ordinierten
Sitz und Stimme in Presbyterien und Synoden haben oder zwingend mindestens den stellvertretenden Vorsitz im Presbyterium haben? Ich plädiere davon, sie grundsätzlich von der stimmberechtigten
Mitgliedschaft in den Entscheidungsgremien auszuschließen (sie könnten sich als beratende Mitglieder zu Wort melden). Dann wären sie wirklich von der Verwaltung entlastet und könnten sich
voll und ganz auf ihren theologischen Beruf konzentrieren, geistliche Autorität entfalten und zum Vorbild im gelebten Glauben werden. Der theologische Beruf würde ganz neu an Anziehungskraft
gewinnen und könnte sich endlich frei entfalten. Zugleich wären im Blick auf die Verwaltung die mit der entsprechenden Begabung ausgestatteten Gemeindeglieder herausgefordert, ihren Teil zum
Gelingen des kirchlichen Lebens beizutragen, ohne die Verdrängung durch das theologische Personal befürchten zu müssen.
- Die demokratische Kultur des kirchlichen Lebens wird durch einen weiteren Sachverhalt erheblich eingeschränkt: Presbyterien, Synoden und Kirchenleitung sind gehalten, möglichst einmütige Entscheidungen zu treffen. Kampfabstimmungen, Machtkämpfe und offen ausgetragener Streit sind quasi unzulässig. Das verhindert, das Konflikte offen gelegt werden, was zu deren Lösung oder Klärung zwingende Voraussetzung wäre. Damit wird nicht der Gegenstand eines Streitfalls, sondern der Streit selbst zum Vorwurf. Wer Widerspruch einlegt, Vorwürfe erhebt, sich beklagt, Missstände benennt, Fehlverhalten anzeigt und dergleichen mehr stört damit den Frieden der Gemeinde, weil er gegen das Einmütigkeitsprinzip verstößt. Würde er das aber - "um des lieben Friedens willen" - nicht tun, dann würde damit die Klärung des tatsächlichen Konflikts entweder verhindert, zumindest aber erheblich erschwert werden.
Unsere Kirche muss sich auf Dauer klar werden, was sie unter einer presbyterial-synodalen Ordnung versteht. Sind damit die Grundsätze demokratischer Kultur gemeint, dann wird sie überprüfen müssen, wie es um den demokratischen Charakter der Kirchenordnung und des kirchlichen Lebens wirklich bestellt ist. Oder ist damit was anderes gemeint als Demokratie? Dann muss sie genau beschreiben, was tatsächlich gemeint ist und worin sich die presbyterial-synodale Kultur von einer demokratischen abhebt. Diesen Klärungsprozess halte ich für überfällig und möchte ihn anregen.
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