Die lesende Kirche

Auf der Suche nach einer Spiritualität, die der evangelischen Kirche angemessen sind, stoßen wir auf ein typisch evangelischen Gestalt der Spiritualität: Das Lesen. Es hat eine lange Tradition und birgt einen großen Reichtum in sich. 

 

Mystik liegt im Trend. Ein zunehmend verflachendes kirchliches Leben ohne Tiefe, Pfarrerinnen und Pfarrer am Rande der Erschöpfung, langweilige und trockene Gottesdienste, ununterbrochene Gremiensitzungen und Verwaltungsvorgänge wecken die Sehnsucht nach mehr vita contemplativa statt vita activa, nach mehr Maria statt Marta, nach mehr Entdeckung der Langsamkeit statt Beschleunigung, nach mehr Schweigen statt Reden, nach mehr Mystik statt Hektik. Ich teile die Sehnsucht danach ausdrücklich. Mystik ist allerdings ein etwas unscharfer Begriff. Vieles kann damit gemeint sein. Für mich ist entscheidend, dass Mystik nicht aus der Wirklichkeit wegträgt, sondern mitten in sie hineinführt. Sie begünstigt nicht die Weltflucht, heraus aus einer belastenden, unter Stress setzenden, ermüdenden Gegenwart, sondern verhilft zum Bleiben und Aushalten im Hier und Jetzt. Sie ist ein nachhaltiger und liebevoller Blick auf das, was hier und jetzt und wirklich ist. Sie ist Präsenz und Achtsamkeit. Sie stellt die Enge des Augenblicks in einen weiten Horizont. Sie gewährt Abstand und Übersicht. Der Zugang dazu führt über das Loslassen, „Letting Go“, über Entspannungs- und Atemübungen und die Wahrnehmung des eigenen Körpers, die Einübung des Schweigens. Nach Krisen- und Konfliktsituationen, unter anhaltendem Zeitdruck, bei Überforderung oder Überlastung ist sie geradezu eine Überlebensbedingung – und was hätten wir als Kirche sonst noch zu bieten, wenn wir den Menschen dies eben nicht bieten könnten? Eine mystikfreie Kirche braucht niemand.

 

Der Weg in die Mystik – wie ich sie gerade andeutend beschrieben habe – führt über die Stille. Allerdings bin ich ein bisschen zurückhaltend, wenn Stille und Schweigen zu einem Habitus werden sollen. Die Empfehlung, etwa jeden Tag einen bestimmten Zeitraum – sagen wir: eine halbe Stunde – für die Übung der Stille zu reservieren, ist durchaus ambivalent. Sie kann nämlich dazu verleiten, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen und um sich selbst zu kreisen und damit zum in sich verkrümmten Menschen (homo incurvatus in se) zu werden. Denn letztlich bin nicht ich das Ziel des Evangeliums, sondern nur eine Station auf dem Weg zum Ziel. Das Ziel ist eine erneuerte Schöpfung. Sie erfordert nicht nur die vita contemplativa, sondern genauso die vita activa, nicht nur das Verweilen bei sich selbst, sondern ebenso die Begegnung. Eine gelingende Spiritualität wird dadurch gekennzeichnet, dass sie in die „Kommunikation des Evangeliums“ (Ernst Lange) führt. Bei der Entwicklung einer gesunden Spiritualität schauen wir gerne bei anderen vorbei, vornehmlich in der katholischen Kirche, aber auch in der Orthodoxie, im Judentum oder bei fernöstlichen Spiritualitäten. Das ist zweifellos im hohen Maß anregend – aber wir übersehen dabei, dass wir Evangelischen selbst einen unglaublichen Reichtum an spiritueller Erfahrung haben. Im Zentrum steht das Lesen. Wir sind eine lesende Kirche.

 

Die praktischen Theologen Alexander Deeg und Martin Nicol haben den lesenden Pfarrer entdeckt, den „pastor legens“ und haben ihn als Modell gefordert und beschrieben. Im Pfarramt – das war schon immer so – spielt das Lesen eine zentrale Rolle. Fulbert Steffensky erzählt, wie er als katholischer Schüler den evangelischen und katholischer Pfarrer seines Wohnortes wahrgenommen hat. „Überall“ im evangelischen Pfarrhaus „standen Bücher, und diese Menschen waren anders belesen, als ich es aus meiner Welt kannte.“ Im Unterschied dazu waren im Haus des katholischen Amtsbruders „nur wenige Bücher zu finden. Es waren die erwartbaren Dogmatiken, Heiligenlegenden und Kirchenväter. Während Bücher den Geist jenes evangelischen Pfarrhauses inszenierten, war die Szene im katholischen Haus durch Heiligenbilder, ein Bild des Papstes, das große Kreuz oder die Lourdesmadonna bestimmt.“ Man mag hinter den Bücherregalen in evangelischen Amtsstuben ein etwas blasses, intellektuelles, verkopftes und staubtrockenes Papierchristentum sehen – oder aber den großen Schatz evangelischen Christentums darin vermuten, dass das Lesen – nicht nur im Pfarrhaus! – stets im Zentrum seiner Spiritualität stand. Ich verfolge die zweite dieser beiden Optionen hier weiter.

 

Deeg und Nicol nennen ausdrücklich den jüdischen Rabbi(ner) als Vorbild. Er bezieht sich ständig auf Geschriebenes, auf die hebräische Bibel und auf den Talmud. Nach dem Verlust von Land, Stadt und Tempel im babylonischen Exil unterzog sich Israel, das damit zum Judentum wurde, einer tiefgreifenden und faszinierenden Transformation. Es wurde vom Volk des Landes und des Tempels zum Volk des Buches. Das Judentum ist die Schriftreligion schlechthin (Psalm 1!). Tradition vollzog sich von nun ein nicht mehr (nur) mündlich, sondern schriftlich. Anders als mündliche Tradition wird schriftliche Tradition fixiert, ein für allemal festgelegt und unveränderlich. Menschen unterschiedlichster Zeiten und Ort können sich auf dieselbe Schrift beziehen, die sich nie mehr wandeln wird. Wie der Text der Heiligen Schrift in die eigene Sprache übersetzt wird, diese Frage wird stets schöpferische Prozesse in Gang setzen (müssen). Aber der Wortlaut der Schrift selbst, der Urtext, bleibt für alle Zeiten unverändert, und die Textkritik hat ausschließlich die Aufgabe, den richtigen Text, die richtige Schreibweise „festzustellen“.

 

Wer einen Text verfasst oder ein Buch, gibt etwas von sich weg. Ist ein geschriebener Text einmal geschrieben, veröffentlicht oder in die Hände der Leser gelangt, hat der Autor keinen Einfluss mehr darauf. Jetzt steht er allen, die ihn lesen, „zur Verfügung“. Sie können sich darauf verlassen, dass der Text auch beim zweiten und dritten Lesen derselbe Text bleibt. Wer den Text liest, „besitzt“ ihn, wer ihn geschrieben hat, eben nicht mehr. Die Autoren der Texte sterben irgendwann, sie geraten in Vergessenheit, man weiß nicht mehr, wer den Text geschrieben hat. Aber der Text ist immer noch da und bleibt es! Die Unveränderlichkeit des Textes, des Artikels, des Buches macht die Faszination des Lesens aus. Das Gespräch, dass sich zwischen anwesenden Personen ereignet, wird mit der Zeit in der Erinnerung verblassen und schließlich vergessen; Nachgeborene werden nie erfahren, was vor ihrer Zeit Lebende miteinander besprochen haben – es sei denn, es wird schriftlich fixiert; dann aber bleibt auch nur, was schriftlich fixiert ist und es wird nie wirklich überprüft werden, ob es sich damals bei dem Gespräch exakt so verhalten hat.

 

Die Unveränderlichkeit des Geschriebenen macht es aber auch möglich, dass sich unterschiedliche Lesende auf dieselbe Schrift, dasselbe Buch beziehen und auch sicher sein können, dasselbe gelesen zu haben. Damit können sie über das Gelesene ins Gespräch kommen. Die Identität einer Gemeinschaft wird oft durch den Bezug auf dieselben für immer unveränderlichen Schriftstücke definiert. So wird auch das Judentum durch seine Schriften zusammengehalten. Mit dem Christentum wird es dann nicht anders sein und es wird auf diese Weise auch über die hebräische Bibel, das Alte Testament stets mit dem Judentum verbunden bleiben, auch wenn es dann, mit der griechischen Bibel, dem Neuen Testament, eine eigene Schrift-Tradition bildet. Vor allem die Klöster des christlichen Abendlandes werden mit ihren Skriptorien zu den zentralen Orten des Lesens und Schreibens werden, bis dann, mit Hilfe der Erfindung des Buchdrucks den Christenmenschen insgemein die Bibel in die Hand gedrückt wird. So wird durch die Reformation die Kirche endgültig zur lesenden Kirche wird. Sie hat damit die Voraussetzungen für ein literarisches Zeitalter geschaffen, indem übrigens das evangelische Pfarrhaus eine nicht ganz geringe Rolle spielt.

 

Deeg und Nicol geht es beim „pastor legens“ um ein Modell des Pfarramts. Ich meine auch, dass man bei einer Predigt spürt, ob die predigende Person sich die Zeit zum zweckfreien Lesen nimmt und belesen ist. Tatsächlich aber ist das Lesen – und in der Folge bzw. als Voraussetzung dafür das Schreiben – nicht nur ein Kennzeichen des Pfarramtes, sondern evangelischer Spiritualität überhaupt. Die evangelische Kirche ist lesende Kirche – und das ist ihre Stärke. Christinnen und Christen vertiefen ihren Glauben zunächst, in dem sie sich in die Heilige Schrift vertiefen. Haben sie damit begonnen, werden sie lesend nicht bei der Bibel bleiben. Ich plädiere dafür, das Lesen in das Zentrum der Spiritualität zu stellen.

 

Wir lesen jeden Tag, von morgens bis abends, wir schauen auf unsere Smartphones, auf Bildschirme, Anzeigetafeln, Wegweiser, wir blättern in Aktenordnern, in Gebrauchsanweisungen, Rezeptbüchern, Programmen usw. – aber das ist nicht Lesen im ursprünglichen Sinn. Das ist lediglich ein flüchtiges Registrieren und Überfliegen von Information und Textschnipseln, die kurz erscheinen und schnell wieder verschwinden. Lesen hat etwas mit dem Auf-Lesen von Wörtern zu tun, für das ich Zeit brauche und das langsam geschieht und eins nach dem andern.

 

Es geht dabei zunächst nicht um die Frage, was ich lese, sondern dass und wie ich lese. Wir neigen dazu, die Texte möglichst schnell zu lesen, sie zu überfliegen und nach den Informationen abzusuchen, die wir gerade benötigen. Lesen aber braucht Zeit, Kontinuität, Sorgfalt und Ausdauer. Lesen geschieht langsam und zweckfrei. Voraussetzung dafür sind Neugier, Wachheit, Interesse, Freiheit von Zeitdruck und Unvoreingenommenheit. Es sind lange oder konzentrierte Texte, Artikel oder Bücher, die am Stück gelesen werden. Lesen braucht dieselbe ungestörte und konzentrierte Umgebung und den Schutz vor Ablenkung und Zerstreuung wie Gebet und Meditation. Lesen polarisiert die Aufmerksamkeit und lenkt das Bewusstsein auf einen ganz bestimmten Punkt. Lesen ist eine Gestalt der Meditation und Kontemplation und führt in eine Haltung der Achtsamkeit und Präsenz. Wenn es gelingt, dann setzt irgendwann der Flow ein, es fließt, der Text liest sich gewissermaßen von selbst, er entwickelt eine Eigendynamik, die mich über eine lange Zeit mitzunehmen in der Lage ist. Der Leseprozess kann sich ohne Ermüdungsgefühle über Stunden hinziehen „und ich kann nicht mehr aufhören zu lesen“. Die Texte, die ich lese, sind selbst in einem meditativen, kontemplativen und hochkonzentrierten Geschehen entstanden, das sich beim Lesen gewissermaßen von der schreibenden auf die lesende Person überträgt. Genau diese Übertragung macht die Faszination des Lesens aus. Die Faszination steigert sich noch, wenn mehrere Menschen über denselben Text, den sie gelesen haben ins Gespräch kommen. Sie erzählen sich gegenseitig von dem, was sie gelesen haben und darin mischen sich, oft unbemerkt, die eigenen Erzählungen ein – ein Vorgang übrigens, den man auch in etlichen biblischen Geschichten selbst meint beobachten zu können. Bei Bibelgesprächen, einer typisch evangelischen Frömmigkeitsform, wird häufig der der Fehler gemacht, die biblische Geschichte, die Gegenstand sein soll, erst im Gespräch selbst zu lesen. Das bleibt dann schnell an der Oberfläche. Ein gelingendes Bibelgespräch setzt voraus, dass die Teilnehmenden den Text vorher in der Stille und konzentriert selbst gelesen haben und mit ihm vertraut geworden sind.

 

Mir kann es beim Lesen passieren, dass ich einschlafe (und mir passiert das oft, deswegen suche ich mir zum Lesen möglichst bequeme Sitzgelegenheit, die ein kurzes Nickerchen ermöglicht). Das geht völlig in Ordnung und ist ein Hinweis auf die Tiefenentspannung, die sich beim Lesen einstellt. Es kann aber auch sein, dass ich, zunächst unbemerkt, abschweife und ich mit meinen Gedanken völlig woanders bin. Das Gelesene weckt Assoziationen, holt ins Bewusstsein, was sich in mir unbewusst regt und stellt mir immer wieder die Frage: Wie würdest du deine Geschichte erzählen? Gerade dieses Abschweifen – das nichts mit Zerstreuung oder mit dem Kreisen um sich selbst zu tun hat – ist etwas höchst Kreatives und Klärendes. Lesend erlebe ich, womit ich oben die mystische Erfahrung beschrieben habe: den nachhaltigen und liebevolle Blick auf das, was hier und jetzt, was wirklich ist. Die Enge des Augenblicks wird in einen weiten Horizont gestellt.

 

Bleibt noch die Frage, was ich lese. Die Frage darauf ist verhältnismäßig einfach: Alles, was meine Neugier weckt und was mich fasziniert. Wenn das Lesen zur Gestalt evangelischer Spiritualität wird, steht die Heilige Schrift im Mittelpunkt. Das kontinuierliche Lesen in ihr weckt geradezu die Neugier auf sie und die Faszination an ihr. Ich werde immer wieder zu ihr wie zu einem Heimathafen zurückkehren und immer wieder erneut von dort aufbrechen – eine Haltung übrigens, die sich, keineswegs auf die kirchliche Welt beschränkt, immer wieder in der abendländischen Literatur bis in die Gegenwart ausmachen lässt. Es wird nicht nur Sach- und Fachliteratur sein, sondern es werden Geschichten sein, alles was erzählt wird, wozu die schöne Literatur gehört, aber auch Texte eines guten Journalismus. Entscheidend sind Zweckfreiheit und Absichtslosigkeit des Lesens. Auch wenn man das nicht ausdrücklich anstrebt, wird es immer wieder in die Begegnung und ins Gespräch mit anderen Lesenden oder Nichtlesenden führen, keineswegs nur in Gestalt von Text- oder Buchbesprechungen. Lesen und Leben stehen im besten Fall in einem ständigen gegenseitigen Austausch. Lesen macht sprachfähig.

 

Alexander Deeg hat in seinem Aufsatz die Frage gestellt, ob das Zeitalter des Lesens zu Ende geht, weil nicht mehr das gelesene Wort, sondern das geschaute Bild dominiert. Zweifellos ist das Lesen – so, wie hier beschrieben – auf dem Rückzug. Aber die Faszination des Buches wird bleiben. Es wird auch in Zukunft noch Kirchen und Buchläden geben und Glaubende wie Lesende werden Salz der Erde sein.

 

Zum Nachlesen:

 

Fulbert Steffensky (Hg.), Nicolaigasse. Der Pfarrer und das Pfarrhaus in der Literatur, 2004 (Das Zitat stammt aus dem Vorwort, Seite 9)

 

Alexander Deeg, Pastor legens. Das Rabbinat als Impulsgeber für ein Leitbild evangelischen Pfarramts, in: PTh 93 (2004), 411–427.

 

Martin Nicol, Weg im Geheimnis. Plädoyer für den Evangelischen Gottesdienst, (3. Aufl.) 2011 (hier besonders die Seiten 273-296)

 

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