Die Freiheit eines Christenmenschen, der Gemeinde und des Pfarramtes

"Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.

Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan."

 

Diese beiden voran gestellt Kern-Sätze erläutert Martin Luther in seiner kleinen Schrift "von der Freyheyt eyniß Christen menschen". Sie hat 2020 ihren Fünfhundertsten. Wer wissen will, was evangelisch ist, braucht  eigentlich nur sie zu lesen. Da steht alles drin. Am besten einmal durchlesen, dann einen Monat lang jeden Tag einen der 30 Abschnitte meditieren. Sie ist natürlich in der Sprache und Denkwelt jener Zeit geschrieben, aber trotzdem von uns Heutigen gut zu lesen und nachzuvollziehen.

 

Ich beschäftige mich dieser Tage viel mit der Freiheit der Gemeinde und der Freiheit des Pfarramtes. Beides hängt eng mit der Freiheit eines Christenmenschen zusammen.

 

I. Die Freiheit eines Christenmenschen

 

Dass Gott kaum noch eine Rolle spielt und für die Zeitgenossen immer weniger wichtig ist, hat seine Gründe nicht in fortschreitender Erkenntnis oder Aufklärung, sondern hat viel mit Abgelenktsein und Bequemlichkeit zu tun. Es ist nämlich dringend davon abzuraten, nach Gott zu fragen. Wer das tut, kriegt erst mal lange keine Antwort. Gott ist weg. So oft wir nach ihm suchen - er entzieht sich uns. Wir müssen mit der Welt und mit uns selbst alleine fertig werden müssen. Wenn Gott weg ist, dann liegt es an uns, die Welt und uns selbst zu retten. Wir sind völlig überfordert, allein gelassen, preisgegeben (früher hätte man gesagt: verdammt). Unsere Angst ist der Angst der Menschen am Ende des Mittelalters verblüffend ähnlich. "Wenn nun der Mensch aus den Geboten sein Unvermögen gelernt und empfunden hat, so dass ihm nun Angst wird, wie er denn dem Gebot genüge tue – zumal das Gebot erfüllt sein muss, oder er muss verdammt sein –, so ist er recht gedemütigt und in seinen eigenen Augen zunichte geworden: er findet nichts in sich, wodurch er gerecht werden könnte" (VdFeC_9). Je mehr wir suchen - wir stoßen immer nur auf den abwesenden, verborgenen, schweigenden und uns alleine lassenden Gott.

 

Der evangelische Glaube hat seine Ursache also nicht in der vergeblichen oder erfolgreichen Suche nach Gott. Vielmehr ist es Gott selbst, der den Menschen sucht. Während wir vergeblich versuchen, mit Gott ins Gespräch zu kommen, sucht er das Gespräch mit uns. Es sind nicht viele Menschen, die sich im Gespräch mit Gott wiedergefunden haben, ohne dass es sie selbst es gesucht haben. Aber das, was sie von Gott gehört haben, gilt ihnen nicht allein persönlich, sondern allen Menschen. Zuerst war Israel gemeint. Aber durch die Geschichte des Jesus von Nazareth und seiner Schülerinnen und Schüler hat es die Grenzen Israels überschritten und richtet sich auch an uns, die wir nicht zu Israel gehören. Dokumentiert wird es in den Schriften der Bibel. Die zentrale Bedeutung des Gottesdienstes besteht darin, dass er der Ort ist, an dem es ausgerichtet, proklamiert und verkündet wird und sich hier und heute an die richtet, die das Wort gerade hören.

 

Wir reagieren darauf, indem wir selbst urteilen und entscheiden müssen: Glauben wir diesem Wort? Dass es tatsächlich Gott ist, der spricht?  Dass tatsächlich jede(r) von uns gemeint ist? "Dann jedoch kommt das andere Wort, die göttliche Verheißung und Zusage, und spricht: Willst du alle Gebote erfüllen, deine böse Begierde und Sünde los werden, wie die Gebote erzwingen und fordern, siehe da, glaube an Christus, in welchem ich dir alle Gnade, Gerechtigkeit, Friede und Freiheit zusage" (VdFeC_9). Das Geheimnis evangelischen Christseins besteht darin, dass es vollkommen ausreicht, dieses Wort ernst zu nehmen und zu glauben. "Glaubst du, so hast du. Glaubst du nicht, so hast du nicht. Denn was dir unmöglich ist mit allen Werken der Gebote, deren es viele gibt und die doch keinen Nutzen haben können, das wird dir leicht und kurz durch den Glauben. Denn ich habe kurzum alle Dinge in den Glauben eingeschlossen, so dass der, der ihn hat, alle Dinge haben und selig sein soll; wer ihn nicht hat, der soll nichts haben" (VdFeC_9). Das Wort kann und tut alles, was wir nicht vermögen.

 

Wer das einmal verstanden hat, dem müssten schlagartig Steine vom Herzen fallen und Lasten vom Nacken abgenommen werden. So ist es Luther selbst übrigens auch ergangen. Wir brauchen weder die Welt retten noch uns selbst. Der Schöpfer gibt weder seine Schöpfung noch sein Geschöpf preis. Gott selbst kümmert sich um das, was er selbst ins Dasein gerufen hat. Jeder Mensch muss sich die Frage stellen, worauf er sich verlassen kann (das ist ja mit Glauben gemeint). Wir Evangelischen haben eine Antwort darauf bekommen und ihr Glauben geschenkt: "Daher müssen wir nun gewiss sein, dass die Seele aller Dinge entbehren kann bis auf das Wort Gottes, und ohne Gottes Wort ist ihr durch gar nichts geholfen. Wenn sie aber das Wort hat, so braucht sie auch sonst nichts mehr, sondern sie hat an dem Wort Genüge, Speise, Freude, Friede, Licht, Erkenntnis, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gute im Überschwang" (VdFeC_5).

 

Durch das Wort Gottes sind wir - endgültig und auf Dauer! - entlastet und frei gesprochen. Aber wie geht’s jetzt weiter? Wir sind im Besitz der Freiheit eines Christenmenschen - was fangen mit ihr an? Auch Luther hat sich das gefragt - mit seinen Worten:  "Ei, wenn der Glaube alle Dinge ausmacht und es allein auf ihn ankommt, ausreichend gerecht zu machen, warum sind dann die guten Werke geboten? Dann wollen wir guter Dinge sein und nichts tun! Nein, lieber Mensch, so nicht" (VdFeC_19). Nun kommt der zweite Kern-Satz ins Spiel: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan. Denn jeder Freiheit "von" verliert ihren Sinn, wenn sie nicht zur Freiheit "zu" wird. Wir sind befreit von Lasten, die uns völlig überfordern, von Ansprüchen, den wir nicht gerecht werden können, von Anforderungen, die uns unter Druck setzen. Aber wir sind noch in diesem Leben und werden es noch eine ganze Weile bleiben. Das Wort, dem wir Glauben schenken, wird nicht vergehen, aber der Glaube daran kann uns durchaus wieder abhanden kommen. Darum muss er geübt werden: "Obwohl der Mensch innerlich, nach seiner Seele, durch den Glauben voll gerechtfertigt ist und alles hat, was er haben muss…, so bleibt er doch in diesem leiblichen Leben auf Erden und muss seinen eigenen Leib regieren und mit den Leuten umgehen. Da heben nun die Werke an, hier darf er nicht müßig gehen, da muss der Leib fürwahr mit Fasten, Wachen, Mühen und mit maßvoller Zucht bewegt und geübt werden, damit er dem inneren Menschen und dem Glauben gehorsam und gleichförmig werde, ihn nicht hindere und ihm nicht widerstrebe, wie es seine Art ist, wenn er nicht gezwungen wird" (VdFeC_20). Weil der Mensch davon entlastet wird, Unerfüllbares leisten zu müssen, kann er nun wieder die Rolle übernehmen, die ihm sein Schöpfer von Anfang an zugedacht hatte, nämlich Mitwirkender an seiner Schöpfung zu sein: "So soll man die Werke eines Christenmenschen, der durch seinen Glauben und aus lauter Gnade gerecht geworden ist, nicht anders ansehen als die Werke Adams und Evas im Paradies, wovon Gen 2 geschrieben steht, dass Gott den geschaffenen Menschen ins Paradies setzt, damit er es bearbeiten und bewahren solle… Damit er nicht müßig ginge, gab ihm Gott zu schaffen, das Paradies zu bepflanzen, zu bebauen und zu bewahren... Ebenso bedarf das Werk eines gläubigen Menschen, welcher durch seinen Glauben auf Neue ins Paradies versetzt und von neuem geschaffen wurde, keiner Werke, um gerecht zu werden; sondern damit er nicht müßig gehe und seinen Leib bearbeite und bewahre, darum sind ihm solche freien Werke, allein Gott zu gefallen, befohlen" (VdFeC_22). Statt leisten zu müssen, was er nicht kann, kann er jetzt darauf schauen, was er leisten kann. Etwas tun, weil man es kann, macht ein Leben sinnvoll. Etwas nicht tun, weil man es nicht kann, macht ein Leben sinnlos. Anders gesagt: Die Freiheit eines Christenmenschen hat nur dann Sinn, wenn der Christenmensch Gebrauch von ihr macht. Tut er das nicht, gerät die Freiheit wieder in Vergessenheit - mit der Folge, dass der Druck zurückkehrt, unter dem man bisher stand. Sie wird belanglos, verliert ihre Bedeutung, wird nicht mehr verstanden. Gebrauch macht der  Christenmensch von seiner Freiheit, indem er Verantwortung übernimmt: "Denn der Mensch lebt nicht allein in seinem Leib, sondern unter anderen Menschen auf Erden. Darum kann er nicht ohne Werke sein gegen diese, er muss ja mit ihnen zu reden und zu schaffen haben, obwohl ihm keines dieser Werke nötig ist zur Gerechtigkeit und Seligkeit. Darum soll seine Meinung in allen Werken frei und nur darauf hin ausgerichtet sein, dass er anderen Leuten damit diene und nützlich sei. Nichts anderes soll er sich vornehmen als was den anderen nötig ist: das ist ein wahrhaftiges Christenleben, und da geht der Glaube mit Lust und Liebe zu Werke, wie Paulus die Galater lehrt" (VdFeC_26).

 

II. Die Freiheit der Gemeinde und des Pfarramts

 

Wo das geschieht, wo der Christenmensch also von seiner Freiheit Gebrauch macht und Verantwortung übernimmt, da entsteht Kirche - denn die Christenmenschen nehmen ihre Freiheit wahr und übernehmen Verantwortung nicht für sich alleine, sondern verbünden sich. Nur da kann Gemeinde entstehen, bestehen und wachsen, wo dies geschieht und je mehr das geschieht, um so lebendiger ist sie. Dass dies auch organisiert und verwaltet werden muss, dass also zwangsläufig Strukturen entstehen, das haben schon, wie das NT berichtet, die Christen der ersten Generation lernen müssen.

 

Aber offenbar haben solche Strukturen, je mehr sie sich ausbilden und je komplexer sie werden, die Eigenart, den Christenmenschen die Verantwortung abzunehmen und an sich zu ziehen. Diese haben dann immer weniger die Chance, von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen. An ihre Stelle tritt dann entweder Loyalität, Unterordnung oder Gehorsam - oder aber sie wird uninteressant, unverständlich und gerät in Vergessenheit. Die Kirche wird dann entweder - wenn sie die Macht hat - autoritär und zwingt sich ihren Mitgliedern auf, oder aber sie verliert an Bedeutung, ist nicht mehr wichtig und es ist nicht mehr klar, warum man zu ihr gehört. Die erste Möglichkeit war im Mittelalter der Fall, heute ist es ehe die zweite Möglichkeit, die die Kirchen belastet. Wie es aussieht, unterscheiden sich darin die beiden großen Kirchen gerade nicht. Der europaweite Verlust an Kirchenmitgliedern und die zunehmend schwindende Bedeutung des Christentums in den europäischen Kulturen - außerhalb Europas sieht es anders aus - hat dann seine Gründe weniger in der vermeintlichen "Säkularisierung" oder in einem schwindenden Interesse an der Religion, sondern ist das Resultat eine kontinuierlichen Bevormundung bzw. Entmündigung der Kirchenmitglieder. Sie werden entweder zu folgsamen Schafen, die nichts zu sagen habe und nur tun sollen, was man ihnen sagt, oder aber zu Kunden und Dienstleistungsempfängern, die man bei Laune halten muss, damit sie ihre finanziellen Beitrag leisten, was aber eben nicht mehr gelingt. Wenn man die Freiheit eines Christenmenschen verkündet, ihnen aber Verantwortung abnimmt und damit die Möglichkeit, von der Freiheit eines Christenmenschen Gebrauch zu machen, wird aus diese Freiheit eine leere Attrappe, für die sich keiner interessiert.

 

Das wirkt sich natürlich auch auf das Pfarramt aus. Pfarrerinnen und Pfarrer haben den Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Verkündigung der Freiheit eines Christenmenschen, also des Evangeliums geschieht und die zu begleiten, die von diese Freiheit Gebrauch machen. Wenn das aber kaum noch jemand tun kann, wird die Freiheit des Evangeliums unwirklich, uninteressant und irrelevant. Das stellt den Sinn des Pfarramtes in Frage bzw. werden Pfarrerinnen und Pfarrer in Frage gestellt. Sie sehen sich gezwungen, alles zu tun, um den Erosionsprozess aufzuhalten oder wenigstens zu bremsen. Weil dies auch nachvollziehbaren Gründen nicht gelingen kann, geraten sie in den Zustand der Erschöpfung und brennen aus. Da auch die kirchenleitenden Ebenen ähnliche Erwartungen an sie richten, geraten sie unter den Druck, ihre Existenz rechtfertigen zu müssen und verlieren damit die Freiheit des Pfarramtes, die eigentlich notwendige Voraussetzung ihres Dienstes ist. Sie werden mehr und mehr zu Funktionären, deren Aufgabe es ist, den Betrieb trotz allem irgendwie am Laufen zu halten. Das wiederum hat zur Folge, dass sowohl die Verkündigung als auch die Inanspruchnahme der Freiheit eines Christenmenschen kaum noch im Blick ist, weil die Notwendigkeit, den Betrieb im Betrieb zu halten, alle Aufmerksamkeit absorbiert. Erschöpfung und Ausbrennen sind die - fast schon unvermeidliche - Folge.

 

Der Ausweg - für den gewiss ein langer Atem notwendig ist - kann nur darin bestehen, die dreifache Freiheit herzustellen: Die Freiheit eines Christenmenschen, die Freiheit der Gemeinde und die Freiheit des Pfarramtes.

 

Es ist ein Wagnis - aber es nicht einzugehen, wäre das noch größere Wagnis.

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