Die Chancen der babylonischen Gefangenschaft

Babylonische Gefangenschaften erkennt man an drei Merkmalen, die ihnen gemeinsam sind. Zum einen sind sie das Ergebnis einer jeweils weit zurück reichenden Entwicklung.

  1. Es ist beeindruckend zu sehen, wie weit die Israeliten während ihres Exils in Babylon zurück geschaut haben, um ihr Schicksal zu begreifen. So entstand beispielsweise das sogenannte deuteronomistische Geschichtswerk, mit dessen Hilfe die Vertriebenen ihre Geschichte gedeutet haben.
  2. Jene babylonischen Gefangenschaft der mittelalterlichen Kirche - von Martin Luther so genannt - , die zum Auslöser der Reformation (und, nicht zu vergessen, der kaum weniger tiefgreifenden "Gegen"-Reformation innerhalb der katholischen Kirche) wurde, ist ebenso Endpunkt einer Jahrhunderte alten Geschichte, der ein "Weiter so" unmöglich gemacht hatte.
  3. Ähnlich verhält es sich mit der babylonischen Gefangenschaft der evangelischen Kirche, die wir gerade erleben. Dass sie vollständig ihren Finanz- und Verwaltungsleuten in die Hände gegeben ist; dass sie sich zwar mit allerlei theologischen, geistlichen oder liturgischen Ornamenten schmückt, die aber, ohne vermisst zu werden, auch wegbleiben könnten; dass Theologinnen und Theologen dies alles zwar klug kommentieren, aber schon lange nicht mehr nachhaltig prägen und bewegen - das alles macht deutlich, wie sehr das Landeskirchentum an sein Ende gekommen ist. So, wie die römische Kirche im 16. Jahrhundert in die babylonische Gefangenschaft geraten ist, so passiert es im 21. Jahrhundert mit der evangelischen Kirche.

Zum anderen sind babylonische Gefangenschaften für die, die sie ereilen, unausweichliches Schicksal.

  1. Eigentlich war den Israeliten schon lange vorher klar, dass sie gegen die benachbarten Großmächte nichts würden ausrichten können. Sie waren ihnen mehr oder weniger ausgeliefert.
  2. Schon Jahrhunderte zuvor war der Wunsch und die Erneuerung der mittelalterlichen Kirche "an Haupt und Gliedern" spürbar - und blieb Illusion. Ihr Niedergang bis zum Vorabend der Reformation war nicht mehr abwendbar.
  3. Auch die aktuelle babylonische Gefangenschaft unserer Kirche ist durch auch noch so intelligente Reformbemühungen nicht mehr aufzuhalten. Das um sich selbst kreisende System aus Kirchenkreisverwaltungen, neuem kirchlichem Finanzwesen, Oberkirchenräten, Strukturreformen und Landeskirchenämtern würde sich auch dann stetig weiterdrehen, wenn es kein Gemeindeleben mehr gäbe, während dieses selbst das alles eigentlich gar nicht braucht. Das alles ist nicht das Ergebnis falscher, aber vermeidbarer Synodenentscheidungen, sondern zwangsläufig. Wir werden nicht in der Lage sein, dies aufzuhalten und uns unserem Schicksal fügen müssen.

Das dritte Kennzeichen babylonischer Gefangenschaften ist, dass sie zum Anlass tiefgreifender Erneuerungsprozesse werden - nicht in dem Sinne, dass sie die alten, verschlissenen Systeme wiederherstellen, sondern dass in ihnen etwas Neues entsteht, in das das Alte sich verwandelt, zunächst im Verborgenen, dann aber sichtbar hervorbrechend. Babylonische Gefangenschaften sind Zeiten außerordentlich großer Kreativität, Leidenschaft und Entschlossenheit. Dabei handelt es sich um schöpferische Ereignisse, die sich nicht planen lassen, sondern unerwartet und von selbst eintreten. Man braucht nur in den Bücher der Propheten wie Hesekiel oder dem zweiten Jesaja oder in Luthers Texten ab 1520 zu lesen, dann wird man gespannt und neugierig, was sich an dieser Stelle in der gegenwärtigen Entwicklung abzeichnet. Das Faszinierende an der gegenwärtigen Lage ist, dass wir noch nicht wissen oder allenfalls vage ahnen, was das Neue sein wird, das da heranwächst - aber dass wir bereits jetzt schon, im vollen Bewusstsein und nicht erst in der Rückschau mit ansehen dürfen, was da im Begriff ist, aufzubrechen.

 

Vage ahnen wir, dass es sich bei diesem Ende des Landeskirchentums nicht um das Ende der Volkskirche handelt, wie oft behauptet wird. Jetzt kann eine echte Volkskirche erst entstehen, nicht als Kirche für das Volk, sondern als Kirche des Volkes; nicht als Kirche, die das Volk betreut, sondern die Sache des Volkes selbst ist. Das Volk wird seine Kirche entdecken. Christinnen und Christen ergreifen selbst Initiative und sind selber Kirche, ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu fragen. "Wo zwei oder drei zusammen sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt 18,20), so lautet das treffende Wort Jesu dazu. Wo zwei oder drei in seinem Namen zusammen sind, da sind sie bereits Kirche. Um selbst Kirche zu sein, braucht man die Kirche nicht, wohl aber braucht man dafür die Freiheit, die Entschlossenheit, das Gottvertrauen, den Mut und die Initiative, um die Kirche in Gestalt vieler kleinen Kirchen, die alle zusammen "die" Kirche bilden, neu zu gründen.

 

Vage ahnen wir, dass Pfarrerinnen und Pfarrer keine Amtspersonen mehr sein und auch nicht mehr den Gemeindeleitungen angehören werden. Sie wirken allein auf Grund ihrer Erfahrung, ihrer geistlichen Übung, ihre theologischen Sachkunde als Anreger, Seelsorger, Ermutiger, Begleiter und Berater derer, die die Initiative ergreifen. Sie zeichnen sich durch ihre verlässliche Präsenz, ihre Aufmerksamkeit und ihre Ansprechbarkeit aus - aber sie werden nicht mehr "das Sagen" und auch kein Siegel mehr haben. Sie werden vielleicht verwundert erleben, wie das neu entstehende kirchliche Leben eine Eigendynamik entfaltet, in das sie sich nur dann einmischen, wenn sie darum ausdrücklich gebeten werden.

 

Vage ahnen wir, dass die Taufe eine ganz neue und zentrale Bedeutung gewinnt, denn sie und nicht die Bereitschaft zur Zahlung der Kirchensteuer wird es sein, die den Christen zum Christen und zum Mitglied der Kirche macht. Wir sehen jeden Christen so an, auch wenn er selbst sich so zu sehen nicht gewillt ist, wozu wir ihn einladen, aber niemals zwingen. Wir erinnern die Getauften daran, dass sie mit Gott versöhnt und zur Nachfolge Jesu berufen sind und dass sie eben nicht gefragt werden, ob sie das auch sein wollen.

 

Vage ahnen wir, dass das kirchliche Leben nicht länger von Kirchenmitgliedschaft, Amtshandlungspraxis, vom territorialen und parochialen Prinzip geprägt sein wird, sondern von autonomen, kommunitären, geschwisterlichen und verbindlichen Gemeinschaften, die sich ihre Regel des geistlichen und gemeinschaftlichen Lebens selber geben. Die Evangelische Michaelsbruderschaft - mit ihrem Leitsatz: "Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind" - mag dafür Beispiel und Vorbild sein. Die Mitgliedschaft in der Kirche wird allein durch die Taufe bestimmt, die Mitgliedschaft in der Gemeinde oder Gemeinschaft durch die Übereinstimmung mit der Regel, die sie sich gegeben hat.

 

Vage ahnen wir, wie sehr die Gesellschaft und die Kultur in der Mitte Europas, im Herzen des "christlichen Abendlandes" auf ein funktionierendes evangelischen und katholisches Christentum angewiesen ist. Eine Demokratie, die auf dem Bekenntnis zur unantastbaren Würde des Menschen gegründet ist, wird anders auf Dauer gar nicht funktionieren können. Es wird immer so sein und war auch nie anders, dass nur ein kleiner Teil einer Gesellschaft religiös aktiv ist, aber die senfkorn- und sauerteigartige Aktivität der Wenigen sorgt dafür, dass für die große Mehrheit das Christentum die (um den soziologischen Fachbegriff dafür zu gebrauchen) die "Hintergrunderfüllung" bildet und sie sich in gegebenen Situationen darauf beziehen können. So bleibt das Christentum auch weiterhin das Fundament des gesellschaftlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens - so wie Kirchen und Kapellen, Dome und Kathedralen unverzichtbar in die Stadtsilhouetten gehören. Auch denen, die sie nie oder selten betreten, wird ihre Präsenz und Offenheit von Bedeutung bleiben. Wir wollen auf das Gemeinwesen, dem wir angehören, mit unserem Christentum einwirken, nicht drohend, sondern die Freiheit der anderen respektierend; nicht einschüchternd, aber selbstbewusst. Partnerschaftlich und kooperativ, aber auch entschlossen und verbindlich tragen wir das Christentum ins öffentliche Leben, denn ohne uns bleibt oder entsteht dort eine Leerstelle. Wir fordern die Menschen heraus, sich darauf zu besinnen, worauf sie sich verlassen und wofür sie verantwortlich sind.

 

Vage ahnen wir, dass es auch weiterhin einen kirchlichen Überbau wird geben müssen, durch den die sehr unterschiedlichen und auch unterschiedlich großen Gemeinden, Gemeinschaften und Kirchen vor Ort zu der einen Kirche zusammengehalten und öffentlich in Erscheinung gebracht werden. Es muss eine Instanz geben, die darauf achtet, dass alles, was sich "evangelisch" nennt, tatsächlich auch auf dem Boden des Augsburger Bekenntnisses, des Heidelberger Katechismus und der Barmer Erklärung steht. Ebenso braucht es einen Partner und ein Gegenüber zur katholischen Kirche, denn nur mit ihr gemeinsam werden wir Volkskirche sein können.  Unterstützung, Bildung, Ausbildung, Konfliktregulierung, Entwicklung und Betreuung des Pfarramtes, Repräsentation nach außen sowie Dienste und Projekte, die nur regional zu leisten sind, werden hier angesiedelt sein - aber mehr eben auch nicht. Institutionen wie Diakonie oder das Akademiewesen gehören dort nicht mehr hin. Sie werden sich autonom selbst verwalten oder sich in nichtkirchliche, öffentliche Institutionen umwandeln, was nicht im Widerspruch zu ihrer evangelischen Identität steht, wie das ja auch bei den theologischen Fakultäten der Fall ist. Aber diese übergeordnete Ebene wird etwas völlig anderes sein als der aufgeblähte Apparat von Landeskirchen und EKD, wie wir ihn kennen und nur ein Bruchteil so groß sein.

 

660.00 Menschen haben die großen Kirchen im vergangenen Jahr verlassen. Die evangelische Kirche reagiert darauf, indem sie Millionen nicht in ihre Zukunft, sondern in die Rücklagenbildung ihrer Pensionskassen investiert. Die Kirche finanziert ihren eigenen Ruhestand. Das ist gut so und vielleicht doch (anders als ich bisher meinte) weise vorausschauend. Denn nun kann sie tatsächlich in den Ruhestand gehen und es wir Raum für Neues geschaffen.

 

Vage ahnen wir das alles, aber wie es dann wirklich kommen wir, das werden wir ja erleben. Überraschungen und Verblüffungen wird es ohne Zweifel geben. Aber unser Zuschauen wird nicht einfach nur ein passives Zuschauen sein, sondern in hohem Maß Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Präsenz. Wir bereiten uns vor, wir halten uns bereit. Dem soll dienen:

  1. die intensive Arbeit an den biblischen Schriften Alten und Neuen Testaments, die wir auf die neue Situation hin ganz neu lesen werden;
  2. das Gebet, das Innewerden, die Wachheit, das Gespräch mit Gott, die Aufmerksamkeit auf das, was Gott tut und redet;
  3. das Gespräch und die Gemeinschaft mit denen, die den Aufbruch heraus aus der babylonischen Gefangenschaft unserer Kirche fest im Blick haben;
  4. Bildungsarbeit an sich selbst und an anderen, nicht mit dem Ziel der Anpassung an existierende Systeme, sondern mit dem Ziel der Selbständigkeit und Mündigkeit als Befähigung, selber Kirche zu sein.

Das Landeskirchentum wird wohl noch eine ganze Weile weiter bestehen. Wir werden es nicht bekämpfen und weiter dort unsere Dienste tun. Aber wie das vorexilische Israel und die mittelalterliche Kirche hat es seine Fähigkeit zur Erneuerung und seine nach vorne weisende Kraft verloren. Doch so, wie Gott Israel die Treue hält, so wird auch unsere Kirche nun zum Ort werden, an dem Neues heranwächst. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden (2. Kor 5,17).  

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