Schrift und Bekenntnis oder Aufmerksamkeit und Interesse?

Es ist dankens- und bemerkenswert, dass Oberkirchenrätin Dr. Wibke Janssen in der Februar-Ausgabe von EKiR.info das Stichwort "Kirchenbindung" nennt. Sie geht zunächst von sich selbst aus, wenn sie schreibt:

 

"Bindung entsteht durch berührende gute Erfahrung. So bin ich meiner Kirche verbunden."

 

Obwohl sie mich zuweilen tief verletzt hat, könnte ich dasselbe sagen. Die evangelische Kirche ist und bleibt meine Heimat und ich werde ihr aller Voraussicht nach bis an mein Lebensende verbunden bleiben. Aber gerade dieses Stichwort Kirchenbindung weist darauf hin, was unsere Kirche vielleicht am meisten bedroht. Janssen schreibt:

 

"Die Bindung an der Kirche nimmt ab. Wenn eine Generation der nächsten nicht von der Sehnsucht nach dem Meer erzählt, dem, was die Kirche für das Leben bedeuten kann, dann steigen weniger Passagiere ins Schiff der Gemeinde. Wenn Wissen und Technik des Segelns, biblische Geschichten und die Bedeutung  christlicher Riten und Fester nicht weitergegeben werden, verliert die Aussicht an Kraft, dass es an Bord etwas zu erleben und zu gestalten gibt."

 

Damit spricht Janssen etwas an, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht häufig im Blick war. Kirchenbindung oder Verbundenheit geschieht, in dem ich mich mit der Kirche identifiziere. Um mich mit ihr zu identifizieren, muss ich ihre Identität kennen. Die lerne ich nur kennen, wenn ich ihre Geschichte kenne und weiß, wo sie her kommt. Das führt zur zentralen Bedeutung von Schrift, Bekenntnis und Überlieferung. Das erfordert im gewissen Sinne eine konservative, also bewahrende Haltung, nicht um bei dieser stehen zu bleiben, sondern, um den Weg weiterzugehen - "aufbrechen" sollte man hier nicht sagen, weil wir ja schon unterwegs sind und uns den Menschen angeschlossen haben, die schon seit Jahrhunderten unterwegs sind.

 

Aber genau dies gerät auf fahrlässige Weise immer wieder aus dem Blick. Als die Leute angefangen haben, bei abnehmender Verbundenheit die Kirche zu verlassen, haben viele gedacht: Wir dürfen ihnen nicht Schrift und Bekenntnis, mit Geschichte und Identität kommen. Daran fühlen sich diese Menschen gerade nicht gebunden. Wir müssen sie vielmehr auf die Gegenwart, auf ihre Aktualität aufmerksam machen, ihre Neugier wecken, die Kirche interessant macht, sie vor den Augen der Öffentlichkeit inszenieren. Dann werden sie schon kommen, um zu gucken, was es damit auf sich hat und was dahinter steckt.

 

Das Problem ist nur, dass sich dies für punktuelle, einzelne Aktionen verwirklichen lässt. Wenn es aber nicht verpuffen und dauerhaft wirken soll, müssten sie in einen Dauerzustand überführt werden, was aber unvermeidlich in Überforderung - und wenn man diese sich nicht eingesteht: in Selbsttäuschung - einmündet. Öffentlich wirksame Aktionen können nicht ersetzen, dass wir uns und anderen gegenüber Rechenschaft über unsere Identität schulden. Es reicht nicht zu sagen, das wir noch da sind. Es wird auch nötig sein, zu sagen, wer wir sind.

 

Die Frage ist, ob die abnehmende Kirchenbindung hausgemacht ist oder Ausdruck eines schon sich seit vielen Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten ereignenden Geschehens. Ich kann das nicht beurteilen, vermute aber, das letzteres der Fall ist. Aber auch dann ist festzuhalten, dass die Kirche oder die Kirchen wenig versucht haben oder ihnen kaum gelungen ist, die Lockerungen der Kirchenbindung aufzuhalten oder auch nur zu verlangsamen.

 

Nehmen wir als Beispiel meine Heimatstadt Düsseldorf. 2012 würde mit großer Aufmerksamkeit ein "Synodaler Prozess" in Gang gesetzt. Ich habe noch im Ohr, wie damals Presbyterinnen und Synodale bedeutungsschwer davon sprachen, dass man sich ja gerade in einem synodalen Prozess befinde, "wir haben ja jetzt den synodalen Prozess…" In dessen Rahmen wurden etliche Kirchen und Gemeindezentren aufgegeben, einige gar abgerissen und Gemeinden zusammengelegt. Den Menschen in der Christuskirche (in der ich bis 2008 Pfarrer war) hat man gesagt: Bitte fahrt acht Straßenbahnhaltestellen weiter, dort gibt es auch eine evangelische Kirche. Dass sich auf diese Weise keine Kirchenbindung fördern lässt, liegt auf der Hand.

 

Heute redet kein Mensch mehr von einem synodalen Prozess. War er an sein Ziel gekommen und oder ist er irgendwann versickert oder versandet? Stattdessen tauchte - das war 2021 - ein neues Stichwort auf: Das Bürgergutachten. Mit viel Geld und öffentlicher Aufmerksamkeit wurde eine von der Universität Wuppertal wissenschaftlich begleitete Umfrage mit bewusst zufällig ausgewählten Düsseldorferinnen und Düsseldorfern veranstaltet. Was daraus geworden ist, weiß man auch nicht. Was aber niemanden weiter auffällt, denn man ist schon längst bei der nächsten Idee: Düsseldorf soll EINE Gemeinde werden - mit 120.000 Mitgliedern in einer Stadt mit 620.000 Einwohnern. Aber wenn schon Synodaler Prozess und Bürgergutachten nicht zu einer wachsenden Kirchenbindung geführt haben, welche Gründe gibt es, anzunehmen, dass dies nun bei diesem neuen Vorhaben geschieht? Ist nicht gerade die Tatsache, dass schon wieder einen neue, vermeintlich zukunftsträchtige Idee im Raum steht, ein verborgenes Eingeständnis, dass die vorhergehenden Versuche gescheitert sind? Sind diese eigentlich mal öffentlich ausgewertet worden? Bemerkenswert ist übrigens, dass die Entwicklung dieser Idee nicht in der kirchlichen Öffentlichkeit stattfindet, sondern vielmehr in irgendwelchen synodalen und presbyterialen Hinterzimmern, aus denen nicht mehr als ein geheimnisvolles Rumoren dringt. Es zu erwarten, dass bei diesem Düsseldorfer "Gemeindewerdungsprozess" die evangelischen Christinnen und Christen wie schon beim "Synodalen Prozess" vor vollendete und nur noch abzunickende Tatsachen gestellt werden.

 

Die Förderung von Kirchenbindung wird, wie gesagt, nur möglich sein, wenn wir nicht nur darauf hinweisen, dass uns (noch) gibt, sondern auch, indem wir Rechenschaft darüber ablegen, wer wir sind. Die Frage ist, ob die Menschen inner- und außerhalb der Gemeinden dies wissen. Was sagen sie, wenn wir sie fragen, was die evangelische Kirche ist? Sehr viel mehr, als dass evangelischen Pfarrer heiraten dürfen, dass die Evangelischen alles ein bisschen lockerer sehen und das evangelische Gottesdienste noch langweiliger sind als katholische wird da nicht kommen. Aber auch wir selbst, wir, die wir in unserer Kirche engagiert sind, wissen wir denn noch, wer wir sind, und warum wir so sind, wie wir sind, wenn wir es denn sind? Was macht eigentlich die Evangelische Kirche aus? Wann sind wir evangelisch und wann eben nicht mehr? Denn wenn sich diese Frage nicht beantworten lässt, dann brauchen wir erst gar nicht anfangen, uns um Kirchenbindung und dergleichen Gedanken zu machen.  Einige mit dieser Fragestellung verbundenen Unterscheidungen will ich hier anführen. Sie ließen sich durch weitere ergänzen:

 

Evangelisch ist unsere Kirche nicht, wenn sie zentral gelenkt und von oben gesteuert wird. Sie ist evangelisch, wenn wir sie von unten wachsen lassen.

 

Evangelisch ist unsere Kirche nicht, wenn sie die sie leitenden Kriterien einem in der freien Wirtschaft üblichen Management-Denken oder einem Soziologendeutsch entnimmt. Evangelisch ist sie, wenn die dazu auf die Bilder und Narrative der Heiligen Schrift zurückgreift.

 

Evangelisch ist unsere Kirche nicht, wenn ihre Gemeinden mehr nicht sind als Unterabteilungen ihres überdimensionierten Verwaltungsapparates. Evangelisch ist sie, wenn die Freiheit der Gemeinden gewahrt wird, so dass diese sich selbst verwalten und ihre Belange autonom und unabhängig regeln können.

 

Evangelisch ist unsere Kirche nicht, wenn Gemeinden durch Zusammenlegung o. ä. zu anonymen Kirchenregionen herangewachsen sind, in der das gegenseitige persönliche Wahrnehmen nicht mehr möglich ist. Evangelisch ist sie, wenn ihre Gemeinden überschaubare Netzwerke persönlicher Beziehungen sind, die sich in ihrem Kern jeden Sonntag am gewohnten Ort zum Gottesdienst trifft

 

Evangelisch ist unsere Kirche nicht, wenn ihre Mitglieder wie Kunden, Nutznießer ihrer Dienstleistungen oder als Publikum behandelt werden. Evangelisch ist sie, wenn ihre Mitglieder als mündige und freie Christenmenschen angesehen sind, die angeregt, ermutigt und angeleitet werden, das allgemeine Priestertum der Getauften ein- und ausüben.

 

Evangelisch ist unsere Kirche nicht, wenn sie ihre Aufmerksamkeit vor allem darauf richtet, ihre Mitglieder als Kirchensteuer-Zahlende an sich zu binden oder wieder zu gewinnen. Evangelisch ist sie, wenn sie sie dazu anregt, ermutigt und anleitet, selber Kirche zu sein.

 

Evangelisch ist unsere Kirche nicht, wenn ihre Pfarrerinnen und Pfarrer mehr nicht sind als praktisch weisungs- und auftragsgebundene Funktionäre der Kirche. Evangelisch ist sie, wenn ihre Pfarrerinnen und Pfarrer in ihrer Freiheit und Unabhängigkeit geschützt und nur ihrem Gewissen unterworfen sind.

 

Evangelisch ist unsere Kirche nicht, wenn ihre Pfarrerinnen und Pfarrer aufgrund der Fülle ihrer Verpflichtungen nicht verlässlich präsent noch achtsam sein können. Evangelisch ist sie, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer keine Leitungsfunktionen in Gemeinde und Kirche ausüben und Weisungen weder erhalten noch erteilen. Ihr Dienst sind Wort und Sakrament, Bildung und Seelsorge, Präsenz und Achtsamkeit, Spiritualität und Theologie

 

Evangelisch ist unsere Kirche nicht, wenn ihre Kirchengebäude nur zu Stunde des Gottesdienstes zugänglich sind und ansonsten verschlossen bleiben. Evangelisch ist sie, wenn ihre Kirchengebäude von morgens bis abends als Ort des Rückzugs, des Schweigens und der Gottesbegegnung offen stehen.

 

Evangelisch ist unsere Kirche nicht, wenn sie sich darauf beschränkt, feierlich ihre Bekenntnisse zu (re)zitieren und sich auf Martin Luther, Karl Barth oder Dietrich Bonhoeffer zu berufen. Evangelisch ist sie, wenn sie die bis heute belastenden Folgen des (damals unvermeidlichen) landesherrlichen Kirchenregiments und das Scheitern beim Neubeginn nach 1919 und 1945 aufarbeitet und hinter sich lässt.

 

Evangelisch ist unsere Kirche nicht, wenn Mitglieder einer Gemeinde ihr durch einen Verwaltungsvorgang aufgrund ihres Wohnortes angehören. Evangelisch ist sie, wenn Mitglieder einer Gemeinde auf Grund der eigenen Entscheidung angehören, ihr mit Rechten und Pflichten in gegenseitiger Verbindlichkeit angehören zu wollen. Die Mitgliedschaft in der Kirche beruht jedoch nicht auf der eigenen Entscheidung, sondern auf der Taufe. 

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